Gilles Marchand

«Die 200-Franken-Initiative ist brutal und radikal»

Interview von Michel Guillaume und Nicolas Dufour, erschienen am 21. Januar 2023 in «Le Temps»

Gilles Marchand, Generaldirektor der SRG, in Lausanne, im Januar 2023, @Christophe Chammartin für Le Temps

Kaum war Gilles Marchand Generaldirektor der SRG, musste er bereits hart für den audiovisuellen Service public kämpfen. Den Abstimmungskampf gegen die Initiative «No Billag», welche die Radio- und Fernsehgebühren abschaffen wollte, konnte er damals mit grosser Mehrheit gewinnen. Fünf Jahre später droht der SRG durch eine Initiative zur Senkung der Medienabgabe von 335 auf 200 Franken die Halbierung ihres Budgets. Die Bedrohung ist umso realer, da nun mit Albert Rösti ein Unterzeichner der Initiative als neuer Medienminister für das Dossier der SRG zuständig ist. Mit Blick auf die zahlreichen Herausforderungen für die SRG spricht Gilles Marchand im Interview über seine Strategie.

Informieren Sie sich morgens nach dem Aufstehen sofort via Radio und Fernsehen über die aktuellen Ereignisse?

Ja. Zuerst höre ich die Nachrichten auf RTS La Première. Dann werfe ich einen Blick auf RTS Info, SRF News und die Internetauftritte von «Le Temps», «Le Matin», «Le Monde», «Blick» oder auch «20 Minuten». Und dann, wenn ich Zeit habe, höre ich kurz bei «France Inter» rein.

Sie haben die Entwicklung der Medienlandschaft in den letzten vierzig Jahren miterlebt. Hat sie sich zum Guten oder zum Schlechten verändert?

Beruflich bin ich mit Papier gross geworden, als Herausgeber von Büchern und dann bei den Zeitungen, also bei der «Tribune de Genève» und bei Ringier Romandie. Dort lernte ich grossartige Autorinnen und Autoren kennen. Danach widmete ich mich dem Audiovisuellen. Dort hatte ich mit starken Persönlichkeiten zu tun. Sie waren fesselnd, manchmal exzessiv. Dann kam das Internet mit seinen grossen Versprechungen des unendlichen Zugangs zu Wissen und der kollektiven Intelligenz. Doch der Aufstieg der sozialen Netzwerke und der Individualismus liessen die Gesellschaft in zahlreiche Minderheiten zersplittern, die immer unnachgiebiger werden. Künstliche Intelligenz und Algorithmen machen das Ganze noch komplizierter. Für die Medien ist die Lage heute schwierig, denn das Publikum investiert lieber in eine bessere Verbindung, als für konkrete Inhalte zu bezahlen. Und die Werbeeinnahmen haben sich in Luft aufgelöst. Die Schweiz ist stark davon betroffen, da unsere winzigen Märkte in den einzelnen Sprachregionen nicht die nötige kritische Masse haben. Aber wir müssen eine Lösung finden, denn das Schicksal unserer Demokratien hängt nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit ab, unabhängige und solide Informationen zu gewährleisten.

Ihr neuer politischer Chef heisst Albert Rösti. Bereitet Ihnen das Sorgen?

In erster Linie bereitet uns die allgemeine Situation der Medien in der Schweiz Sorgen, sowohl bei der SRG als auch bei den privaten Medien. Wir werden dem neuen Vorsteher des UVEK offen gegenübertreten und mit ihm über die Herausforderungen für den nationalen audiovisuellen Service public sprechen. Abgesehen davon war Albert Rösti zwar Mitglied des Initiativkomitees von «200 Franken sind genug» und hat sich der SRG gegenüber kritisch gezeigt, aber ich kann mich auch noch daran erinnern, wie er sich für eine dezentralisierte SRG einsetzte. Im Rahmen der Debatte über den Umzug eines Teils der SRF-Radioredaktion von Bern nach Zürich plädierte er für eine starke SRG, die fest in den Regionen verankert bleiben soll.

Welche realen Gefahren gehen von dieser Initiative aus?

«No Billag» [im März 2018 vom Volk mit 72 Prozent der Stimmen abgelehnt, Anm. d. Red.] war für uns existenziell. Diese Initiative erscheint auf den ersten Blick weniger extrem, ist in Wirklichkeit aber brutal und radikal. Entgegen dem Anschein würde eine Annahme die Fläche der SRG halbieren. Die Initianten stellen ihre Initiative als Kompromiss dar, aber sie hätte schwerwiegende Folgen, da wir nicht mehr in allen Regionen das gleiche Programmangebot aufrechterhalten könnten. Wir würden bei den Gebühren für Haushalte 500 Millionen und bei den Gebühren für Unternehmen rund 160 Millionen Franken einbüssen. Durch die Reduktion unseres Programmangebots würden meiner Einschätzung nach auch unsere kommerziellen Einnahmen sinken, und zwar um 50 bis 100 Millionen Franken. Seit 2014 sind bereits rund 120 Millionen Franken an kommerziellen Einnahmen weggebrochen, ein guter Drittel unseres damaligen Volumens.

Vortrag von Gilles Marchand, um «No Billag» dem Publikum von Public Broadcasters International (PBI) in Seoul 2018 zu erklären.

Mit welchem Budget müssten Sie bei Annahme der Initiative rechnen?

Das Budget würde zwischen 700 und 750 Millionen Franken betragen, was ungefähr der Hälfte unseres aktuellen Budgets entspricht.

Was würde das bedeuten?

Zunächst einmal würde es zu einer Konzentration der Infrastruktur führen. Wir könnten nicht mehr drei grosse Studios in der Deutschschweiz und zwei in der Westschweiz betreiben. Weiter hätte die Initiative auch erhebliche Auswirkungen auf das Programm, da wir nicht mehr generalistisch arbeiten könnten, insbesondere in den Bereichen Sport, Musik und Film. Und es würde auch sehr bedeutende Arbeitsplatzverluste geben.

Wäre das das Ende der «idée suisse», die früher sogar im Namen der SRG stand?

Auftrag und Modell würden sich komplett verändern. Es wäre das Ende der sehr dezentralisierten SRG, wie wir sie heute kennen und die in den einzelnen Regionen mit unterschiedlicher Organisation und unterschiedlichem Know-how entsprechende Programme anbietet. Wir machen in Genf und in Zürich nicht dasselbe Fernsehen.

Welchen Standort würden Sie wählen, falls die Initiative durchkommt? Lausanne oder Genf?

Wir müssten uns tatsächlich für einen einzigen Standort in der Westschweiz entscheiden. Derzeit bauen wir als Ersatz für La Sallaz ein Produktionszentrum für rund 120 Millionen Franken auf dem Gelände der EPFL in Lausanne, das wir zu einem Grossteil durch den Verkauf von Gebäuden und die Konzentration unserer Fläche finanzieren.

Es könnte also sein, dass Sie Ihr brandneues Gebäude auf dem Lausanner Campus aufgeben müssen?

Wir müssten alle Möglichkeiten prüfen. Nicht zu vernachlässigen sind übrigens auch die Kollateralschäden dieser Initiative. Wenn wir unser Budget halbieren müssten, müssten wir das auch bei unserer Zusammenarbeit mit dem privaten Sektor tun. Wir kaufen externe Leistungen ein und vergeben dafür Aufträge im Wert von fast 200 Millionen Franken pro Jahr. Die Annahme der Initiative wäre auch für unabhängige Produzentinnen, Musiker, Künstlerinnen und viele mehr eine Katastrophe.

Aber die Initiative hätte den Vorteil, dass Sie sich auf den Kern des Service public, nämlich die Information, konzentrieren müssten und nicht mehr auf Sport und Fiktion …

Von welchem Kern reden wir? In der Schweiz ist Sport eines der wenigen Elemente, das die Menschen über die Sprachregionen hinaus verbindet. Und ich unterstütze die Fiktion, weil es wichtig ist, unser Land nicht nur durch Informationen zu erzählen. Wenn es in der Schweiz keine Fiktion mehr gäbe, weil dieser Bereich nicht vom Markt finanziert werden kann, würde das Land viel von seiner Würze verlieren. Der Service public ist per Definition generalistisch und sucht sich sein Publikum nicht aus – nach dem Werbepotenzial zum Beispiel. Wir arbeiten für alle. Wie würden Sie es finden, wenn wir auf Gebärdensprache und Untertitel für hörbehinderte Personen verzichten müssten – Dienstleistungen, die ebenso wichtig wie kostspielig sind?

Zeit für ein wenig Selbstkritik: Haben Sie Fehler gemacht, die zu dieser Initiative geführt haben könnten?

Paradoxerweise hat die Tatsache, dass wir unsere Verpflichtungen eingehalten haben, zu Enttäuschungen geführt. Rufen Sie sich in Erinnerung, was 2018 von der SRG gefordert wurde. Mehr und bessere Angebote für junge Leute: Wir haben eine umfassende digitale Transformation eingeleitet. Mehr mit Privaten zusammenarbeiten und effizienter sein: Wir haben 100 Millionen Franken eingespart, was verständlicherweise auch für Frustration gesorgt hat. Wir haben Unzufriedenheit ausgelöst, weil wir Entscheidungen treffen mussten.

Das ist aber nicht der Hauptvorwurf. Diese Initiative kommt von der politischen Rechten. Ist die SRG nicht zu linkslastig?

Das ist eine Frage, die seit den 60er-Jahren immer wieder gestellt wird. Tatsächlich sind wir mit Kritik von rechts und links konfrontiert, sowohl aus der lateinischen als auch aus der deutschsprachigen Schweiz. Es ist ein Mythos, dass nur die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer kritisch sind.

Die Westschweizerinnen und Westschweizer auch, wirklich?

Schauen Sie sich den Twitter-Feed von Christian Lüscher oder Philippe Nantermod an … Überall wird über den Service public debattiert, in der Schweiz wie auch andernorts in Europa. Aber das ist normal und Kritik ist auch hilfreich.

An einer Diskussionsrunde mit den grossen Verlegern – alle aus der Deutschschweiz – und der SRG stiess die Initiative auf viel Zuspruch …

Das liegt daran, dass die Verleger selbst unter starkem wirtschaftlichem Druck stehen. Einige von ihnen glauben, dass es ihnen besser geht, wenn die SRG geschwächt ist. Aber das stimmt nicht. Wenn man sich die Werbeeinnahmen nach Branche über die letzten zehn Jahre anschaut, stellt man fest, dass die Einnahmen bei den Printmedien und beim Fernsehen stark gesunken sind, während sie im digitalen Bereich explodiert sind. Die SRG ist nicht in der digitalen Werbung tätig und profitiert demnach nicht von den Werbeverlagerungen, unter denen die Presse leidet. Dieselben Verleger werfen uns auch vor, dass unsere Internetplattformen zu mächtig sind und nicht offen zugänglich sein sollten. Aber auch sie haben kostenlose Angebote. Und ein Blick auf die Nutzungszahlen zeigt, dass gegenüber den grossen Verlegern in jeder Region 15 bis 20 Prozent des Online-Nachrichtenkonsums auf uns abfallen. Das ist keine dominante Position.

Aber punkto Produktion und Schlagkraft dominieren Sie trotzdem …

Es stimmt, dass die Beziehungen angespannt sind, aber das ist auf den wirtschaftlichen Kontext und die internationale Entwicklung des Digitalen zurückzuführen. Nicht die SRG verursacht den starken Druck, sondern die kritische Grösse des kleinen und in verschiedene Sprachregionen mit ungleicher Stärke unterteilten Schweizer Marktes. Anstatt uns gegenseitig zu zerfleischen, sollten wir uns lieber Gedanken machen, wie wir besser zusammenarbeiten können. Wussten Sie, dass die SRG 70 Prozent der Radio-Publikumsforschung finanziert, obwohl sie keine Radiowerbung sendet? Wussten Sie, dass sie die grösste Kundin der Agentur Keystone-SDA ist? So tragen wir zur Stärkung des Medienplatzes Schweiz bei.

Mit den Direktoren von RTBF, Radio Canada, France TV und TV5Monde

Sollte die SRG angesichts der 200-Franken-Initiative nicht zum Gegenangriff übergehen und auf Werbung verzichten?

Das wäre keine gute Idee, denn die 160 Millionen Franken Werbeeinnahmen würden nicht in der Schweiz reinvestiert.

Ein wenig schon …

Nein. Die Zahlen zeigen, dass die überwiegende Mehrheit des Werbevolumens zu internationalen Plattformen abwandert. Die Produktionskapazität der Schweiz würde dadurch massiv zurückgehen. Ausserdem lehnen alle privaten Akteure, von den Verlegern bis zu den im Dachverband Kommunikation Schweiz zusammengeschlossenen Werbekunden, diese Idee ab. Würde die SRG auf Werbung verzichten, würde der Markt insgesamt schrumpfen. Es gäbe einen sehr gefährlichen Dominoeffekt, der allen Akteuren der Branche schaden würde.

Der Vorsitzende der BBC schockierte kürzlich mit der Prognose, die BBC würde in zehn Jahren nicht mehr rund um die Uhr – und dementsprechend auch ohne feste Fernsehsender – senden, sondern im Rahmen einer Online-Plattform. Teilen Sie diese Vision?

Ich glaube nicht, dass es so extrem wird. Natürlich wird es eine Entwicklung weg vom direkten linearen Konsum hin zum A-la-carte-Konsum geben. Ich gehe von einem 50:50-Szenario aus. Der britische und der Schweizer Markt sind sehr verschieden. Die BBC hat bereits 2007 ihren iPlayer lanciert! Sie spricht ihr Publikum in einer einzigen Sprache an, während unser Publikum sich aus vier Sprachgruppen zusammensetzt. Auch bei uns gibt es eine gewisse Verlagerung, die zum Beispiel an der Serie «Tschugger» zu beobachten ist, die im On-Demand-Bereich für Furore sorgt. Zum ersten Mal verzeichnen wir bei einer Serie online höhere Nutzungszahlen als im linearen Fernsehen. Die beiden Nutzungsarten ergänzen sich und unsere Strategie ist es, auf beide Pfeiler zu bauen.

Wird die Anzahl der linearen Sender reduziert, wenn das On-Demand-Angebot wächst?

Wenn das Angebot im Bereich Video on Demand ausgebaut wird, gibt es tendenziell weniger traditionelle lineare Sender. Aber die Identität eines Programms hängt nicht nur von der Art der Verbreitung ab! Ich persönlich lege Wert auf die regionale Identität unserer Programme und auf unser generalistisches Angebot. Ich will in der französischen Schweiz Westschweizer Fiktion, Westschweizer Musik und Westschweizer Humor. Unabhängig vom Medium.

Vor zwei Jahren haben Sie die Streaming-Plattform Play Suisse lanciert. Wie sieht Ihre erste Bilanz aus?

Ich bin sehr zufrieden mit der ersten Phase. Aktuell haben wir 3500 Produktionen mit Untertiteln in drei Landessprachen, ergänzt durch Angebote in Rätoromanisch. Noch nie in der Geschichte der Eidgenossenschaft gab es ein solches kulturelles Brückenangebot. Noch nie konnte man sich in allen Landesregionen ein so gutes Bild davon machen, was die anderen tun. So können wir unsere jeweiligen Identitäten besser kennenlernen, ohne dass Sprachbarrieren uns daran hindern. Das ist für den nationalen Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung.

Wir starten fast auf Feld eins, vorher haben Sie nämlich fast nichts gemacht – die Deutschschweizer Serien liefen zum Beispiel nie in der Westschweiz …

Ja, vielleicht hätten wir das schon früher machen sollen. Aber innerhalb von zwei Jahren haben wir mit Play Suisse die Marke von 650’000 registrierten Nutzerinnen und Nutzern überschritten. Zudem nutzen sie zu 43 Prozent Inhalte aus den anderen Regionen. Das ist die Daseinsberechtigung dieser Plattform, die der «idée suisse» in der digitalen Welt entspricht. Ich möchte darauf hinweisen, dass Play Suisse nicht einfach nur eine Plattform ist, sondern auch ein Labor, in dem experimentiert wird: Wie können wir die ergonomische Gestaltung weiterentwickeln, wie machen wir Empfehlungen, wie gehen wir mit Algorithmen um? Die Lehren, die wir daraus ziehen können, werden der gesamten SRG zugutekommen.

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