Hundert Jahre Radio in der Schweiz
Lausanne, 1. Oktober 2022:
Rede anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Radios in der Romandie (oder Westschweiz):
In ganz Europa wird der Service public intensiv diskutiert und mitunter sogar in seiner Existenz infrage gestellt (wir in der Schweiz wissen, wovon wir sprechen …). Da scheint es sinnvoll – gerade in der gegenwärtig bewegten Zeit –, ein wenig in der Geschichte zurückzugehen.
Die genauen Anfänge des Schweizer Rundfunks sind unter Historikerinnen und Historikern durchaus umstritten. Anhand welches Ereignisses datiert man den Start des Radios in der Schweiz? Eines ist auf jeden Fall sicher: In diesem Bereich schritt die französischsprachige Schweiz mutig voran. Denn seinen Anfang nahm alles in Lausanne.
Wie so oft bei technischen Innovationen waren auch militärische Aspekte im Spiel. An wen aber wurden die ersten Konzessionen für den Radioempfang vergeben? An Uhrmacher in La-Chaux-de-Fonds und Zürich. Für sie war das seit 1910 von Paris ausgestrahlte Zeitsignal von grossem Interesse. Präzise Zeitmessung und Pünktlichkeit – zwei naheliegende Gründe, warum die Schweiz beim Radio zur Pionierin wurde!
Tatsache ist: Am 14. Oktober 1922 hatte auf den damals noch sehr ländlichen Anhöhen Lausannes ein gewisser Roland Pièce, Verantwortlicher der Flugfunkstation «Champ-de-l‘Air» am Flugplatz La Blécherette, gemeinsam mit Paul Louis Mercanton die ebenso verrückte wie geniale Idee, eine Schallplatte (oder eher Musikrollen) abzuspielen, um die Passagiere eines aus Paris ankommenden Flugs zu unterhalten. Dies dürfte die erste Radiosendung in der Schweiz gewesen sein.
Ab 1922 wurde Lausanne zum Zentrum der aufkommenden Radiobewegung in der Schweiz. Danach ging alles ganz schnell. Im Februar 1923 wurde in Lausanne «Utilitas» gegründet, im Juli 1923 dann – ebenfalls in Lausanne – die «Société romande de radiodiffusion». Zürich folgte im Februar 1924, Genf Anfang 1925 und Bern im August 1925, Basel 1926, Lugano 1930. Das gewaltige Potenzial dieser neuen Technologie fachte die Kreativität in ungeheurem Masse an.
Doch schon bald reichten die mageren Einnahmen aus den Empfangsgebühren nicht mehr aus, um die Weiterentwicklung des Rundfunks zu gewährleisten. Funkwellen machen bekanntlich an Grenzen nicht halt; es drohte ein heilloses Durcheinander. Also nahm sich der Bundesrat der Sache an und genehmigte am 24. Februar 1931 den Zusammenschluss der regionalen Organisationen in der SRG mit einem reichlich komplizierten Aufbau – wir sind schliesslich in der Schweiz …
Und fast im selben Atemzug erteilte der Bundesrat der SRG im März 1931 ihre erste landesweite Konzession. Die Sender Sottens und Beromünster nahmen den Betrieb auf. Zwei Jahre später folgte Monte Ceneri. Die glorreiche Zeit des Radios war angebrochen!
Dieser kurze Blick auf die Ursprünge bringt uns einige wertvolle Erkenntnisse für die aktuellen Debatten. Denn mitunter wiederholt sich die Geschichte. Nehmen wir nur einmal das stets heikle Verhältnis zwischen Service public und den privaten Medien. Wir alle wissen, dass die Verleger die Entwicklung der SRG im Internet und alle personalisierten Digitalangebote so weit wie möglich einschränken möchten.
Und siehe da: Bei der Gründung der SRG erwirkten die Verleger, dass deren Informationsprogramme keine eigenen Redaktionen haben durften. In den Sendungen trugen Schauspieler die Meldungen der SDA vor, die damit für geraume Zeit zum exklusiven Schweizer Nachrichtenlieferanten wurde! Ein ähnliches Tauziehen gab es auch bei der Einführung des Fernsehens in den 1950er-Jahren. Und immer mit der etwas seltsamen Vorstellung, dass es den privaten Medien zugutekäme, wenn es dem Service public schlechter ginge.
Aber ehrlich: Ist es wirklich vorstellbar, dass eine Schwächung der SRG den Hunger von Netflix, Google, Facebook, Amazon oder Telekommunikationsanbietern, die Sportrechte im grossen Stil kaufen, um ihr Internetangebot besser vermarkten zu können, bremsen würde?
Ein weiteres spannendes Thema, das uns seit einem Jahrhundert begleitet: die Rolle der Medien im Spannungsfeld zwischen dem Globalen und dem Lokalen. In kürzester Zeit setzte sich der Rundfunk in seinen Anfängen über unsere Landesgrenzen hinweg und machte die Schweiz im Ausland hörbar. Während des Zweiten Weltkriegs spielten die Sendungen mit den Stimmen von René Payot, Jean Rudolf von Salis oder Fulvio Bolla eine wichtige Rolle. Und schon bald verfügte die SRG über einen Kurzwellendienst, der sich an die Auslandschweizerinnen und -schweizer richtete – aber auch an all jene in der ganzen Welt, die an Informationen aus einem neutralen Land interessiert waren. Ein interessantes Konzept, auch in der heutigen Situation …
Schweizer Radio International übernimmt diese Funktion unter dem neuen Namen Swissinfo weiterhin – einfach online statt im Radio –, zusammen mit den täglich auf TV5 Monde und 3Sat ausgestrahlten Schweizer Sendungen. Weltoffenheit ist für unser Land lebenswichtig, und das Radio hat eindeutig den Weg dafür geebnet. Der Auslandauftrag der SRG ist extrem wertvoll, um dem Rest der Welt unsere Realität, unsere Herausforderungen und Themen zu vermitteln.
Gleichzeitig müssen die Programme vor Ort, in den Kantonen, verankert sein. Das Radio überwindet dieses Spannungsfeld und schafft ein Gefühl der regionalen Identität. In der Deutschschweiz spielt dabei der Dialekt eine Schlüsselrolle. Bis heute wird sein Anteil im Vergleich zum Hochdeutsch in den SRF-Sendungen diskutiert. Jacques Donzel schrieb vor geraumer Zeit, das Radio habe die Westschweiz geschaffen. Nämlich durch gemeinsame Sendungen und Erlebnisse, durch vertraute Stimmen und eine wiederkehrende Tagesstruktur. Von «La Matinale», die uns weckt, bis zu «La ligne de cœur», die uns in die Nacht begleitet. Dazwischen: Information, Kultur, Unterhaltung.
Heute steht dieser umfassende Ansatz der SRG zur Debatte. Manche meinen, der Service public solle sich auf das beschränken, worüber die privaten Medien nicht berichten wollen oder können. Was für eine seltsame und engstirnige Sichtweise. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass unsere Programme in der Lage sein müssen, die gesamte Bevölkerung anzusprechen – unabhängig von den individuellen Interessen und den genutzten Medien oder Kanälen. Das ist das Rezept für Zusammenhalt und Verbundenheit. Das ist die Daseinsberechtigung des Service public. Einfach etwas anderes machen, nein. Möglichst viel anders, auf eigene Weise, machen, ja!
Noch eine Erkenntnis, aktueller denn je: Das Radio weist eine enorme Innovations- und Anpassungsfähigkeit auf. Ob in Produktion oder Distribution: Dieses Medium hat sich immer wieder neu erfunden. Jedes Mal mit fachlichen oder politischen Kontroversen. Das dürfte auch bei der Umstellung von UKW auf DAB+ im Jahr 2025 der Fall sein.
Darüber hinaus geht es aber auch um die zukünftige Nutzung von Audio, Podcasts und Sprachassistenten, die parallel zu den linearen Sendungen an Terrain gewinnen. Auf jeden Fall hat das Aufkommen neuer Technologien und Angebote das Radio nie bedroht. Vielmehr ist es dank flexibler Produktionsmethoden und der unendlichen Kreativität seiner Teams immer gestärkt aus schwierigen Zeiten hervorgegangen.
Die Menschen, die das möglich gemacht haben, gilt es heute zu ehren. All diejenigen, die durch ihre Arbeit und Leidenschaft das Radio geschaffen, weiterentwickelt und gefördert haben. Die Fackel wird weitergegeben. Der Nachwuchs zeigt die gleiche Leidenschaft. Natürlich haben sich die Zeiten und die Gesellschaft geändert. Die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten kommt immer wieder einmal auf. Aber so wie in der Vergangenheit lässt sich auch in der Zukunft noch viel Neues und Schönes schaffen.
Und erlauben Sie mir noch eine kleine Bemerkung zum Schluss. Vor einigen Tagen wurde das jährliche Medienqualitätsrating für die Schweiz veröffentlicht. Die führende Sendung in der Deutschschweiz? – «Echo der Zeit»! Eine Nachrichtensendung mit durchaus internationaler Ausrichtung, die am 17. September 1945 ihre Premiere feierte. Und somit steht im Jahr 2022 eine der ältesten Radiosendungen der Welt, wohlgemerkt aus unserem Land, sinnbildlich für Qualitätsjournalismus.
Orientierung in den Zeitläuften. Dafür steht der Service public. Es lebe das Radio! Auf die nächsten hundert Jahre!
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