Gilles Marchand

«Ich selber gehöre keiner politischen Partei an»

Interview veröffentlicht in «Die Volkswirtschaft» am 12.12.2023, (Journalist Guido Barsuglia)

Herr Marchand, was verbindet die Schweiz mehr: der Gotthardtunnel oder Roger Federer?

Roger Federer. Er weckt bei uns allen Emotionen. Seine Persönlichkeit sowie seine Art, mit anderen Menschen zu interagieren, damit identifizieren sich Schweizerinnen und Schweizer gerne. Er ist ein Spiegelbild der Schweiz.

Findet sich in diesem Spiegelbild die schweizerische Identität?

Die Identität der Schweiz besteht zu einem grossen Teil daraus, Vielfalt zu akzeptieren. Die Schweiz ist sehr gut darin, zu sagen, was sie alles nicht ist: Wir sagen gern, dass wir keine Franzosen, aber auch keine Deutschen und keine Italiener sind. Die Protestanten betonen, dass sie keine Katholiken sind, und umgekehrt. Zudem sind wir weder hundert Prozent urban – noch ausschliesslich Bergler. Anders die Programme der SRG. Sie tragen dazu bei, zu sagen, wer wir wirklich sind.

Wie machen Sie das?

Wir erklären, was die anderen tun und wer die anderen sind. Es ist eine Art, zu sagen, wer und was wir selber sind. Darin liegt übrigens das Paradox unseres Service-public-Auftrags: die Vielfalt pflegen und gleichzeitig Menschen zusammenbringen.

Sie müssen also das Gleichgewicht zwischen Gemeinsamkeiten und Vielfalt finden?

Die richtige Definition unseres Service public umfasst genau diese Suche nach dem Gleichgewicht. In der Schweiz findet man dieses eigentlich immer, auch wenn es sich dafür jeweils erst einpendeln muss.

Wieso sollte sich das Tessin für die Sankt Galler Landwirtschaftsmesse Olma interessieren?

Die Menschen im Tessin müssen davon gehört haben. Das heisst nicht, dass sie die Messe jedes Jahr besuchen sollen. (lacht) Die Öffentlichkeit im Tessin interessiert sich für den Bundesrat, der bei der Eröffnung der Olma ein Säuli im Arm hält, oder für die Tessiner Aussteller, die dort ihre landwirtschaftlichen Produkte präsentieren. Einer unserer Aufträge besteht darin, über wichtige Ereignisse in den anderen Landesteilen zu berichten.

Gibt es ein Sendeformat, das die ganze Schweiz interessiert?

Die Hauptausgaben der Nachrichten, in der Deutschschweiz ist das die «Tagesschau» und in der Romandie «19:30». Dann die Sportübertragungen und Schweizer Serien, die wir koproduzieren und in die Landessprachen übersetzen. Punktuell produzieren wir gemeinsame Sendungen für alle vier Regionen wie kürzlich anlässlich des Eidgenössischen Volksmusikfests in Bellinzona. Was viele jedoch nicht wissen: Beiträge, die von den Redaktionen unserer Regionalstudios produziert werden, kommen in einen gemeinsamen Pool und werden oft in den anderen Sprachregionen wiederverwendet, mit einem übersetzten und angepassten Kommentar.

Früher schaute man die «Tagesschau» jeweils im Kreis der Familie. Ist das heute immer noch so?

Das gemeinsame Erlebnis vor einem einzigen Bildschirm verliert an Bedeutung, ausser beim Sport. Heutzutage werden Fernsehsendungen oft allein geschaut und hinterher gemeinsam diskutiert. Die SRG erfüllt ihren Auftrag, wenn sie die demokratische und gesellschaftliche Debatte fördert.

Für dieses Ziel müssen Sie Ihre Zielgruppen kennen. Wer sind diese?

Gemäss unserem Auftrag richten wir uns an die gesamte Bevölkerung. Wir fokussieren nicht auf eine spezifische Zielgruppe, mit Ausnahme der jungen Leute, mit denen wir den Kontakt halten wollen. Jede Woche stehen wir in direktem Kontakt mit 83 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Das zeigt, dass unsere Sendungen alle Gruppen erreichen.

Wer sind die verbleibenden 17 Prozent?

Das ändert je nach Zeitraum und Programm. Es sind natürlich nicht immer dieselben 17 Prozent betroffen. Wir bemühen uns, irgendwann alle anzusprechen.

Richten Sie Ihr Programm am Ausbildungsniveau Ihres Publikums aus oder danach, ob es eher in der Stadt oder auf dem Land lebt?

Wir wissen, dass bestimmte Sendungen anspruchsvoller sind als andere oder dass sie eher ein jüngeres oder ein traditionelleres Publikum ansprechen. Wir versuchen, mit unserem Angebot das gesamte Altersspektrum abzudecken. Wir achten aber auch auf die soziokulturellen Vorlieben unseres Publikums. Die Reisefreudigen interessieren sich mehr für internationale Fragen; ihr Medienverhalten unterscheidet sich von jenem anderer, die eher in der nationalen Realität verankert sind.

Wie sprechen Sie junge Menschen an?

Indem wir Narrative entwickeln, die sie interessieren. Und indem wir diese auf den Kanälen verbreiten, die sie nutzen: Tiktok, Instagram, Facebook, Youtube. Dank diesen ergänzenden Kanälen können wir mit unseren Marken, Sendungen und Inhalten mit den Jungen in Kontakt treten. Dies, um sie später auf unsere Sender zu führen, wo sie unser restliches Angebot entdecken.

 

Gilles Marchand: «Wir sind Vermittler. Wer unsere Sendungen schaut oder hört, kann den Puls des Landes fühlen. (Bild: Keystone / Peter Klaunzer)
In der Schweiz haben 40 Prozent der über 15-Jährigen einen Migrationshintergrund; ein Viertel der Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass. Ist die SRG eine Schweizermacherin?

Wir sind Vermittler. Wer unsere Sendungen schaut oder hört, kann den Puls des Landes fühlen. Unser breiter Service public deckt verschiedene Bereiche ab und hilft so, zu verstehen, wie die Schweiz funktioniert.

Kürzlich durchgeführte Umfragen in der Westschweiz und im Tessin ergaben ein nicht gerade positives Urteil über die SRG. In diesen Regionen nimmt die Nutzung ausländischer Medien zu. Wie reagiert die SRG darauf?

Ich weiss nicht, auf welche Umfrage Sie anspielen. Es gibt so viele! Ich beobachte jedoch, dass die Ausgangslange am Markt in den drei Regionen unterschiedlich ist. In der Deutschschweiz ist die Konkurrenz viel grösser, da es hier neben der SRG zahlreiche Deutschschweizer Privatsender gibt wie beispielsweise TV24 oder 3+. In der Westschweiz gibt es mehr Platz für ausländische Sender.

Die Deutschschweiz quersubventioniert das SRG-Angebot der anderen Sprachregionen. Sind sich alle regionalen SRG-Sender dessen bewusst?

Die anderen Regionen sind sich dessen sehr bewusst. Gemäss dem «Helvetia-Schlüssel» und angesichts ihrer Grösse erwirtschaftet die Deutschschweiz rund 70 Prozent der SRG-Einnahmen und behält rund 40 Prozent davon. Der Rest wird auf die anderen Regionen verteilt, hauptsächlich auf die italienischsprachige Schweiz. Dieses Ausgleichssystem verstärkt die Legitimität der SRG, da es ein gleichwertiges Angebot in allen Sprachregionen ermöglicht.

Kritiker behaupten, die SRG verdränge die privaten Medien. Wo liegt das Gleichgewicht zwischen der SRG und privaten Anbietern, damit der Wettbewerb beide Seiten bereichert?

Bei den Werbeeinnahmen konkurrenzieren wir den Privatsektor kaum. Da wir im digitalen Bereich keine Einkünfte aus Werbung generieren dürfen, bleiben uns nur die Fernsehwerbung und ein wenig beim Radio. 15 Jahre lang wurde vor allem die Werbung kritisiert; heute trifft die Kritik in erster Linie die Verbreitungskanäle der Inhalte. Einige Herausgeber von Printmedien sind der Ansicht, wir hätten zu gut laufende – und zudem kostenlose – digitale Angebote. Doch dieses Angebot ist ja nicht gratis. Man muss Gebühren bezahlen, um Zugang zu erhalten.

Aber eben, diese Gebühren sind doch für alle obligatorisch …

Es wurde noch nicht belegt, dass ein öffentlich-rechtliches Informationsangebot auf einer digitalen Plattform jemanden davon abhält, für ein privates Angebot zu zahlen. Ganz im Gegenteil. Eine Untersuchung der norwegischen Regulierungsbehörde zeigt: Je mehr qualitativ hochwertige Informationsangebote der norwegische Service public entwickelte, desto grösser war das Interesse an Informationen, und umso mehr Abonnements verkauften die privaten Medien. Es ist also zu kurz gegriffen, zu behaupten, die Situation der privaten Akteure würde sich zwangsläufig verbessern, wenn man die SRG verkleinert. Da spielen viele Parameter mit.

Könnte man nicht wenigstens die teuren Sportübertragungen den Privatsendern überlassen?

Der Sport bringt die Schweizer zusammen. Daher liegt es uns sehr am Herzen, die Sportsendungen allen Regionen zugänglich zu machen. Doch die Übertragungsrechte im Sport hängen von einem internationalen Markt mit extrem hohen Preisen ab. In der Schweiz ist es deshalb fast unmöglich, den Sport über Werbung oder Pay-per-View zu finanzieren. Neben der SRG können nur Swisscom und Sunrise die Übertragungsrechte erwerben. Wenn wir auf die Übertragung von Sportereignissen verzichten würden, wäre es für die kleineren Regionen sehr schwierig, weiterhin Zugang zu haben. Wieso sollten wir es Tessinern oder Genfern verwehren, mit unserer Nationalmannschaft mitzufiebern?

Was ist mit den Filmen?

Der Kauf eines Films oder einer Serie kostet zwischen 100 und 150 Franken pro Minute. Das Drehen eines Films oder einer Serie hingegen kostet in der Schweiz zwischen 12’000 und 20’000 Franken pro Minute. Daher kaufen wir Produktionen ein, überdies oft von hervorragender Qualität, um das Publikum zu binden und es dann dazu zu bringen, auch unsere Eigenproduktionen zu schauen. Diese meist europäischen Produktionen ergänzen die koproduzierten Schweizer Filme sehr gut.

Der Bundesrat setzt sich aus verschiedenen Parteien zusammen, gemäss Zauberformel. Gibt es eine ähnliche Regel für die SRG?

Nein, überhaupt nicht. Die Leiter unserer Unternehmenseinheiten werden ausschliesslich aufgrund ihrer professionellen Kompetenzen ausgewählt. Ich selber gehöre keiner politischen Partei an.

Matthias Aebischer, früher Fernsehjournalist, und Ueli Schmezer, ehemals Moderator der Sendung «Kassensturz», zwei Aushängeschilder von SRF, haben für die SP kandidiert. Ist die SRG politisch links zu verorten?

Diese Kritik wird schon lange vorgebracht und betrifft alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa, insbesondere die BBC oder France Télévisions. Die SRG ist politisch neutral, insbesondere bei der Information zu Wahlen und Abstimmungen. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung der Universität Zürich zeigt beispielsweise, dass die Westschweizer RTS und SRF bei der Berichterstattung zu Initiativen und Referenden genau in der Mitte des politischen Spektrums stehen. Oder nehmen Sie den jüngsten Jahresbericht des Instituts Reuters. Dieser misst das Vertrauen in die Medien. Er belegt, dass die Öffentlichkeit RTS und SRF viel Vertrauen schenkt, obwohl das Vertrauen in die Medien im Allgemeinen schlecht ist.

2018 lehnte die Bevölkerung die «No Billag»-Initiative mit über 70 Prozent der Stimmen ab. Im Jahr 2026 stimmen wir voraussichtlich über die Initiative «200 Franken sind genug!» ab. Warum schon wieder eine Gebührenabstimmung?

«No Billag» wollte die SRG abschaffen. Die aktuelle Initiative strebt die Halbierung des SRG-Budgets an. Das käme einer Zerschlagung des Unternehmens gleich. Die Schweiz diskutiert sehr gerne ihren Service public, und wir sind bereit, uns auf diese Diskussion einzulassen. Ich finde es jedoch nicht sehr glücklich, den Service public zu einem Zeitpunkt weiter zu schwächen, da sich der Mediensektor in einer wirklich schwierigen, um nicht zu sagen katastrophalen Situation befindet: Alle Medienhäuser entlassen Mitarbeitende, wir erleben eine Flut an Fake News und werden von einer Mainstreamkultur überrollt. Nur ein solides nationales Medienunternehmen, das in seinem Kulturraum verankert ist, kann dagegenhalten.

Zurzeit verfügt die SRG – das grösste Medienunternehmen der Schweiz – über ein Jahresbudget von 1,57 Milliarden Franken. Der Bundesrat hat nun vorgeschlagen, die Gebühr auf 300 Franken zu senken, was für die SRG eine Budgetkürzung von 10 Prozent bedeutet. Ist das zu bewältigen?

Nach unseren Berechnungen entspricht das einer Kürzung von 18 Prozent. Gleichzeitig steht die SRG vor anderen grossen Herausforderungen wie dem massiven Einbruch der Werbeeinnahmen und dem wegfallenden Teuerungsausgleich. Man muss bei solchen Kürzungen immer nach dem kollektiven Interesse fragen. Dient diese Massnahme dazu, den privaten Wirtschaftssektor bei dessen Entwicklung zu unterstützen? Oder ermöglicht sie eine Qualitätsverbesserung? Natürlich: Die Gebührenrechnung der Haushalte wird damit um 2.90 Franken pro Monat sinken. Im Gegenzug gehen aber Hunderte von Stellen verloren und werden Produktionen verschwinden. Die Bevölkerung muss sich diese Konsequenzen gut überlegen, wie schon bei der «No Billag»-Initiative.

Ist es somit eigentlich gut für Sie, die Bedeutung der SRG erneut zu diskutieren?

Information ist ein Gemeingut, das für die Bürgerinnen und Bürger ebenso wichtig ist wie eine Grundinfrastruktur. Wir brauchen ein funktionierendes Mediensystem, damit das Land funktionieren kann. Ich halte es für sehr gefährlich, die Qualität der öffentlichen Diskussion in einer direkten Demokratie wie der Schweiz einzuschränken. Daher ist es wirklich extrem wichtig, dass wir darüber sprechen.

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