Gilles Marchand

Transformation und Digitalisierung, die grossen Herausforderungen der SRG

Vanessa O’Connor führte das Interview für die EBU: Original-Artikel auf Englisch

 

Gilles Marchand, SRG-Generaldirektor und Mitglied im Exekutivrat der EBU, im Gespräch mit Vanessa O’Connor, Direktorin Mitgliederbeziehungen und Kommunikation der EBU.

Vanessa O’Connor: Die SRG hat eine tiefgreifende digitale Transformation eingeleitet. Wie weit ist dieser Prozess inzwischen fortgeschritten?

Gilles Marchand: Die digitale Transformation ist eine unserer vier ineinandergreifenden Prioritäten, die auf ihre Weise die vier Arme des Schweizerkreuzes symbolisieren.

Beginnen wir mit der Legitimität, die man am oberen Arm des Kreuzes verorten könnte und für die wir eindeutig mehr tun müssen: Hier geht es darum, die Alleinstellungsmerkmale der Service-public-Medien hervorzuheben, andere Ansätze, Perspektiven und Inhalte zu bieten und diese vor allem auf eine unkonventionelle Art und Weise umzusetzen. Der zweite Arm des Kreuzes entspricht der Notwendigkeit, sich mit dem typischen multikulturellen Charakter der Schweiz auseinanderzusetzen. In diesem Sinne ist es uns ein Anliegen, das richtige Gleichgewicht zwischen Vielfalt und Zusammenhalt zu finden, wenn wir uns an verschiedene Kulturen, Mentalitäten und Sprachgemeinschaften richten. Am dritten Arm des Kreuzes steht das Erfordernis, effizient zu sein. Angesichts der im Zuge der No-Billag-Initiative aufgekommenen Forderungen sah sich die SRG ab 2018 gezwungen, ihr Budget aufgrund des Rückgangs der kommerziellen Einnahmen um rund 10 Prozent zu kürzen. All dies führt uns zum letzten Arm des Kreuzes, nämlich zur digitalen Transformation, die wir durch Effizienzsteigerungen und umsichtiges Haushalten gut zu Ende führen werden.

Der Prozess der digitalen Transformation umfasst unsere Inhalte, die Produktion und die Distribution – alles Elemente, die wir in jeder unserer fünf Unternehmenseinheiten weiterentwickeln (SRF, RTS, RSI, RTR und SWI). Dabei tauschen wir die Ideen und Entwicklungen zwischen den einzelnen Einheiten aus. So können beispielsweise die Bemühungen von RTS, mit ihrer Plattform «Tataki» vermehrt die 15- bis 24-Jährigen anzusprechen, anderen Unternehmenseinheiten als Inspiration dienen. Ein weiteres Beispiel sind die spannenden Inhalte über Philosophie, die SRF auf Youtube veröffentlicht. Wir müssen nun einen Schritt weiter gehen und die digitale Transformation auf der Ebene unserer Prozesse und des gesamten Unternehmens genauer definieren. Zu diesem Zweck bauen wir neue Kompetenzen auf, die den Erfahrungsaustausch zwischen den Regionen erleichtern und beschleunigen und es uns erlauben werden, eine digitale Gesamtvision zu entwickeln. Insbesondere haben wir zwei neue Stellen geschaffen. Zum einen die einer Produktleiterin oder eines Produktleiters für das digitale Portfolio der SRG und zum anderen die der Cheffe oder des Chef des données, die oder der eine unternehmensweite Datenstrategie definiert und unseren Umgang mit Daten vereinheitlicht. Beide Funktionen sind direkt Bakel Walden, dem Direktor Entwicklung und Angebot der SRG, unterstellt.

Vor etwas mehr als einem Jahr hat die SRG ihre Video-on-Demand-Plattform Play Suisse lanciert. Welche Erkenntnisse haben Sie bisher daraus gewonnen?

Mit Play Suisse stellt die SRG erstmals ein nationales Angebot zur Verfügung, durch welches das Publikum besser nachvollziehen kann, wie die Gebühren in den verschiedenen Sprachregionen eingesetzt werden. Wir haben die Plattform im November 2020 lanciert und seither landesweit mehr als 450’000 Registrierungen verzeichnet. Die Plattform ist ein kostenloser Abodienst, dessen Ziel es ist, die besten Schweizer Spiel- und Dokumentarfilme mit Untertiteln in allen Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und manchmal sogar Rätoromanisch) zugänglich zu machen. Die Abonnentinnen und Abonnenten haben sogar die Möglichkeit, die gesamte neue Staffel einer Serie zu streamen, sobald die erste Folge in der ursprünglichen Sprachregion ausgestrahlt wurde.

Play Suisse ist die erste wirklich schweizerische VOD-Plattform. Dank der enormen Fortschritte im Bereich der Übersetzung und insbesondere der Untertitelung erleichtert sie den Zugang zu Inhalten aus anderen Sprachregionen. Bei diesen Themen arbeiten wir übrigens eng mit der EBU zusammen. Die Daten, die uns zur Verfügung stehen, zeigen, dass in jeder der vier Sprachregionen rund 25 Prozent der vom regionalen Publikum genutzten Inhalte aus einer anderen Sprachregion stammen. So ist die Deutschschweizer Krimiserie «Wilder» gegenwärtig die meistgeschaute Serie in der Westschweiz. Die SRG fördert den Aufbau des Schweizer Schaffens im Bereich der Fiktion, indem sie jährlich 15 Millionen Franken in diesen Sektor investiert.

Es ist sowohl für die SRG als auch für die Service-public-Medien im Allgemeinen legitim, Login-Daten von ihren Nutzerinnen und Nutzern zu verlangen, vor allem, wenn wir einen Mehrwert bieten. Was uns von den kommerziellen Medien unterscheidet, ist die Art und Weise, wie wir die Daten verwenden. Bei uns werden sie nämlich gesichert, nicht kommerzialisiert. Wir wollen den Nutzerinnen und Nutzern nicht nur Empfehlungen abgeben, die auf ihrem Nutzungsverhalten basieren, sondern ihnen unerwartete Inhalte vorschlagen und so ihre Neugier wecken. Die Fähigkeit, Sprachbarrieren abzubauen, bietet uns die einzigartige Gelegenheit, einen regionsübergreifenden Raum für Diskussionen zu schaffen, der seinen Teil zum Schweizer Modell der Demokratie beiträgt und uns bei der Gestaltung unserer linearen und nicht-linearen Inhalte hilft. Wir denken sorgfältig über diese Herausforderungen und Möglichkeiten nach, da 2023 wieder eidgenössische Wahlen stattfinden werden. Vielleicht können wir auf diese Weise den Weg für eine Diskussionsgemeinschaft ebnen, die im von Kontroversen und Spaltung geprägten digitalen Raum ein wertvolles Vorbild wäre.

Seit der historischen Abstimmung über die No-Billag-Initiative sind vier Jahre vergangen. Was ist seither passiert? Könnte es sein, dass die nationale Debatte über die Zukunft der SRG wieder aufflammt?

Die vier Punkte der strategischen Vision, die ich vorhin beschrieben habe, stehen alle in Zusammenhang mit den Reformen, die wir 2018 nach der No-Billag-Abstimmung* eingeleitet haben. Das war ein schwieriger Prozess, da viele, welche die SRG unterstützt hatten, nicht immer nachvollziehen konnten, dass sie sparen muss, um den Rückgang der kommerziellen Einnahmen (um mehr als 100 Millionen Franken) auszugleichen und in die digitale Transformation zu investieren, damit sie mit ihrem Publikum Schritt halten kann.

Dadurch, dass sich 72 Prozent der Stimmenden für das weitere Bestehen der Gebühren aussprachen, hat diese Abstimmung die einzigartige Stellung unterstrichen, die wir in der nationalen Identität der Schweiz einnehmen. Wir wussten jedoch, dass die Erleichterung vielleicht nur von kurzer Dauer sein würde und dass wir die eingeleiteten Reformen unbedingt fortsetzen müssen. Diesen Februar hat die Schweizer Stimmbevölkerung über die finanzielle Unterstützung für die kommerziellen Medien mit 150 Millionen Franken abgestimmt. Nach dem «Nein» zu dieser Vorlage kann nun nichts mehr verhindern, dass eine neue Initiative ergriffen wird, welche die Finanzierung der SRG in Frage stellt. Ich werde deshalb weiterhin alles daransetzen, unsere Raison d’Être zu verteidigen. Wir haben den Vorteil, dass wir uns dabei auf unsere Alleinstellungsmerkmale stützen und weiterhin originelle Inhalte in allen Genres entwickeln können, welche die Realität in der Schweiz abbilden, den Zusammenhalt stärken und das gegenseitige Verständnis fördern. Das ist ein grosses Unterfangen: Wir dürfen uns nicht nur auf unsere Marktanteile konzentrieren, sondern müssen alles tun, um den nahen, persönlichen Kontakt mit unserem Publikum zu erhalten.

Welche Lehren haben Sie während der Pandemie im Hinblick auf die Unternehmensführung gezogen?

Die Pandemie hat zu einer beispiellosen globalen Krise geführt, aber die SRG hatte in den Jahren zuvor bereits mehrere schwierige Situationen erlebt. Insbesondere die No-Billag-Initiative war ein Wendepunkt, fast schon eine existenzielle Krise, die unsere Mitarbeitenden vor, während und nach der Abstimmung im März 2018 auf eine sehr harte Probe stellte.

Ich glaube, dass im Laufe der Zeit die Anstrengungen, die wir unternahmen, um unsere Inhalte und sogar unsere Existenz zu verteidigen, im Vergleich zur Aufmerksamkeit, die das Innenleben des Unternehmens erfordert, zu sehr an Gewicht gewonnen haben. Eine der wichtigsten Lehren für mich als Führungskraft – und das nicht nur aus der Pandemie – ist die folgende: Wir müssen den internen Angelegenheiten genauso viel Aufmerksamkeit widmen wie den externen Herausforderungen. Mit anderen Worten: Zu verstehen, wie wir unseren gemeinsamen Werten folgen und sie verteidigen, ist genauso wichtig, wie sich damit zu befassen, wie wir der Öffentlichkeit unsere Legitimität beweisen können. Wir müssen und wollen uns verstärkt mit internen Themen wie Geschlechterungleichheit, Belästigung oder der Suche nach einem Konsens zwischen kulturell divergierenden Denkweisen befassen. Es war unbedingt notwendig, diesen ständigen Prozess anzustossen, und er muss in einem Klima des Vertrauens und der Transparenz aufrechterhalten werden.

Sie wurden erneut in den Exekutivrat der EBU gewählt. In welchen Bereichen können Sie ihrer Meinung nach den grössten Beitrag leisten?

Ich freue mich sehr über die Wiederwahl in den Exekutivrat und betrachte sie gleichzeitig als Ehre und Verantwortung. Zu Ihrer Frage kommen mir insbesondere zwei Dinge in den Sinn: Erstens, dass die Suche nach Konsens und Kohärenz im multikulturellen und mehrsprachigen Umfeld, in dem die SRG tätig ist, eine gewisse Ähnlichkeit mit den Rahmenbedingungen für die EBU aufweist. Und zweitens, dass die ständige Notwendigkeit für die Service-public-Medien, ihre Legitimität zu beweisen und den Ansprüchen all ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer gerecht zu werden, eine grosse Herausforderung bleibt. Ich bin bereit, meine Erfahrungen mit den anderen EBU-Mitgliedern zu teilen, um eine nachhaltige Zukunft für die Service-public-Medien zu gewährleisten.

 

*Bei der No-Billag-Abstimmung vom März 2018 konnten die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über die Abschaffung der Gebühren entscheiden.

 

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