Gilles Marchand

Unparteilichkeit, Medien und Vertrauen

Debatte über Unparteilichkeit in den Medien anlässlich der Generalversammlung der EBU in Madrid am 30. Juni 2023.

 

Die Frage der Unparteilichkeit ist sehr komplex. Es gibt eine universelle Perspektive, die Unparteilichkeit als solche, und es gibt eine Perspektive, die mit dem kulturellen oder politischen Kontext verbunden ist. Und es gibt natürlich auch die ganze subjektive Dimension, die mit der Wahrnehmung zusammenhängt.

 

Wenn wir beispielsweise über den Schweizer Kontext sprechen, kommen wir nicht umhin beim Gedanke der Unparteilichkeit, automatisch auch an die grosse Debatte über Neutralität oder an unser politisches System zu denken.

Die Neutralität wirft die Frage nach dem Gleichgewicht zwischen konkretem Handeln und einer eher moralischen Sensibilität auf. Kann man die beiden Konzepte voneinander trennen? Das ist sehr schwierig. Diese Debatte wird zum Beispiel in Bezug auf die Position der Schweiz im Krieg in der Ukraine und auf Waffenexporte heftig geführt.

Das politische System der Schweiz hingegen basiert auf mehreren grossen Regierungsparteien und einem konstanten Abstimmungsmechanismus. Auch über die SRG wird abgestimmt…  Dieses System verpflichtet den medialen Service public dazu, alle politischen Strömungen gleichwertig zu behandeln, einschliesslich der Bewegungen, die unseren Redaktionen am feindseligsten gegenüberstehen. Dieser Verpflichtung sind unsere Redaktionen auch nachgekommen, als sie die politische Initiative behandelten, die auf die Abschaffung des medialen Service public in der Schweiz abzielte. So viel zu diesem Kontext.

 

Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass Unparteilichkeit vor allem in der journalistischen Absicht, in der Herangehensweise zu finden ist. Und es geht nicht nur um eine quantitative Frage oder die statistische Darstellung von Standpunkten.

Unparteilichkeit bezieht sich auf den journalistischen Ansatz, die professionelle Sorgfalt, die Fähigkeit, ein Thema nicht aufgrund von vorherigen Überzeugungen zu lenken. Und es geht auch um den Ton, das Implizite, das oft die Musik macht, wie ein Sprichwort sagt.

Schliesslich ist Unparteilichkeit nicht nur eine Frage der journalistischen Aufbereitung, sondern auch der Ausgewogenheit bei der Auswahl der Themen und der Programmgestaltung. Die Überpräsenz bestimmter Themen, z. B. gesellschaftlicher Art, kann ebenfalls zu einem Gefühl der Voreingenommenheit führen. Unabhängig von der Qualität der redaktionellen Berichterstattung zu diesen Themen.

 

All dies spielt sich in einem zunehmend komplexen Umfeld ab.

Zunächst einmal gibt es eine starke Polarisierung der öffentlichen Meinungen, die sich in den sozialen Netzwerken feststellen lässt. Diese Polarisierung lässt sich auch auf der Ebene der Politik beobachten, wo immer weniger Investigationen, zugespitzte, nachdrückliche Fragen zugelassen werden. Eine gezielte Frage wird schnell als unrechtmässiger persönlicher Angriff angesehen.

Ausserdem gibt es den wirtschaftlichen Druck, der den Druck auf die Redaktionen erhöht. Dies kann zu Phänomenen der Selbstzensur führen. Beim medialen Service public kann politischer Druck auf den regulatorischen Rahmen einwirken und damit denselben Reflex auslösen.

 

Die Lehre – zumindest in der Schweiz – ist, dass diese Debatte über Unparteilichkeit nicht nur mit den Stakeholdern, den Interessengruppen, geführt werden sollte. Sie muss mit der Öffentlichkeit direkt diskutiert werden. Denn der Unterschied in der Wahrnehmung, zwischen den Stakeholdern und der Öffentlichkeit ist manchmal schwindelerregend.

Und dafür braucht es Beschwerdemöglichkeiten, die für alle zugänglich sind. Zum Beispiel Ombudsstellen oder Mediatoren. Oder unabhängige Instanzen, die Beschwerden aus der Öffentlichkeit evaluieren und eine autorisierte Beurteilung abgeben. Dann braucht es natürlich auch Redaktionen, die diese Evaluationen nachbesprechen und korrigieren, wenn Fehler oder Verstösse vorliegen.

 

Und es gibt auch neue Chancen.

Ich glaube, dass die rasante Entwicklung von Fake News oder anderen alternativen Wahrheiten und die Risiken einer falsch eingesetzten Künstlichen Intelligenz den Redaktionen eine wichtige Rolle und einen wichtigen Wert verleihen – Vertrauen zu schaffen. Durch sorgfältige Arbeit.

Und deshalb bin ich überzeugt, dass in dieser neuen digitalen Welt das Vertrauen in den Service public viel wichtiger ist als die (quantitative) Leistung.

Dieses Vertrauen ist in der Schweiz für die Gesamtheit der Medien zu gering (42%). Aber es ist hoch (über 70%) in Bezug auf die SRG, d.h. SRF und RTS, die in der Studie Reuters 2023 gemessen werden. Und das ist ein sehr ermutigendes Signal, das die Öffentlichkeit damit aussendet.

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