Gilles Marchand

Die Schweiz braucht stabile, unabhängig-öffentliche Medien

Meinungsartikel, GILLES MARCHAND GENERALDIRECTOR, SRG SSR (erschienen am 05.07.2023 in Le Temps)

Das Thema Medien und Information ist heute von grösster Bedeutung. Es ist entscheidend für den Zustand einer Gesellschaft, die sich fragmentiert und in der sich Minderheiten abzuspalten drohen. Unabhängige Medien sind entscheidend für das Verständnis einer komplexen, vernetzten Welt, in der soziale Medien das Primat der Unmittelbarkeit und der Emotionen übernommen haben. Unabhängige Medien sind zweifellos lebenswichtig für eine Schweiz, deren Stärke auf ihrer direkten Demokratie beruht.

Der Westschweizer Journalist Emmanuel Garessus hat kürzlich in der Zeitung «Le Temps» in seinem «Lettre Libérale – liberaler Brief», den Vertrauensverlust in die Medien thematisiert und führt diesen auf die Interventionen des Staates zurück, der letztlich seine Politik fördern möchte. Seiner Ansicht nach wird nur der freie Markt, der eine schärfere Kritik an den Eliten ermöglicht, das Interesse der Konsumenten in die Medien wiederherstellen. Und so ist es nicht überraschend, dass seine Lösung darin besteht, der SRG die Flügel zu stutzen, «da ihre Dominanz den Erfolg der privaten Akteure verhindere».

Dieses politische Plädoyer, das alte Debatten zwischen öffentlichem und privatem Sektor wieder aufreisst, stützt sich auf den Jahresbericht 2023 des Reuters-Instituts – unterschlägt aber einen zentralen Punkt der Studie: 42 Prozent der Schweizer:innen haben demnach noch grundsätzlich Vertrauen in die Medien – der Vertrauenswert der Schweizer Öffentlichkeit in die SRG ist mit mehr als 70 Prozent hingegen massiv höher. Die Studie zeigt auch, dass das sehr breite Publikum der SRG nicht politisch geprägt ist. Dieses Publikum schätzt ein breit gefächertes Programm. Dies erklärt vermutlich zu einem grossen Teil auch das Vertrauen, das die SRG geniesst. Der öffentliche Rundfunk ist an seinen Auftrag gebunden, wird diesbezüglich regelmässig kontrolliert und hält sich an Vermittlungs- und Beschwerdeverfahren. Er muss auf die allgemeine Qualität der Informationen und auf Ausgewogenheit achten. Eine Anforderung, die Vertrauen schafft. Man kann diese Herausforderung nicht auf eine reine Konsumangelegenheit reduzieren.

Technologische Revolutionen haben die Printmedien sowie die allgemeinen Radio- und Fernsehsender erheblich geschwächt. Die Werbung ist auf digitale Plattformen abgewandert. Viele Menschen bevorzugen kostenlose Inhalte, die sie auf ihren Smartphones finden. Sie zahlen heute lieber für den Zugang als für Inhalte. Für Medien, die auf wirtschaftliche Rentabilität angewiesen sind, wird das Streben nach Ausgewogenheit immer mehr zu einer anstrengenden Suche nach Kontakten und Aufmerksamkeit.

Die Annahme, dass der Markt per Definition nur eine Quelle positiver Kreativität sei, erscheint riskant. Der Kampf um Sichtbarkeit und Wirkung um jeden Preis kann auch die Qualität der öffentlichen Debatte beeinträchtigen. Es herrscht die Ökonomie der Aufmerksamkeit. In diese gefährliche Spirale darf sich der öffentliche Rundfunk nicht hinein begeben, sondern muss im Gegenteil seine zugedachte Rolle konsequent ausfüllen: solide Information und Vielfalt, nachhaltig, offen für Diskussionen. Dazu gehört auch, dass er ständig verbessert, was verbessert werden muss. Seine Schwächung würde das allgemeine Misstrauen gegenüber den Medien, das Emmanuel Garessus in seinem Beitrag geisselt, zweifellos verschärfen. Diese Feststellung wird in ganz Europa geteilt.

In der Schweiz wird die Situation durch die Enge des Marktes zusätzlich erschwert. Die Abschaffung der öffentlichen Medien würde mediale Halbwüsten schaffen, in die ausländische Sender und internationale Plattformen, vor allem aus den USA, eilig eindringen würden. Ohne das Engagement der Allgemeinheit durch Reinvestitionen in den öffentlichen Rundfunk würden lokale Produktionen stark geschwächt werden. Und es geht hier nicht nur um Informationen, sondern um weite Bereiche, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. Was würde aus Kultur, Musik, Filmen, Sport und Musik ohne die SRG werden? Diese Bereiche können im nationalen Markt, der zudem noch in mehrere Sprachen unterteilt ist, nicht refinanziert werden. Welcher externe Anbieter würde sich dafür interessieren und über welche Kompetenzen verfügen? Der Service public hingegen muss die Vielfalt der Schweiz in vielen Bereichen sichern.

In der Demokratie steht das Engagement der öffentlichen Hand der Entwicklung lebendiger, attraktiver und qualitativ hochwertiger Medien nicht im Wege. Wir dürfen weder den Kampf noch den Gegner verwechseln. Die digitale Gesellschaft bringt diese grossen Umwälzungen hervor. In unseren fragmentierten Gesellschaften besteht die eigentliche Gefahr im Verschwinden des Gemeinwohls. Jeder neigt dazu, seinen Respekt für die Institutionen von der Erfüllung seiner persönlichen Erwartungen abhängig zu machen. Das allgemeine Interesse ist jedoch nie die Summe der Einzelinteressen. Mit anderen Worten: Die Demokratie braucht Freiräume, Kompromisse und Solidarität, um ihre Widersprüche zu überwinden, Sinn zu erzeugen und ein gutes Ganzes zu ermöglichen. Hier kommt der Service public ins Spiel, der durch das Gesetz geregelt ist. Er ist nicht die Stimme des Staates, sondern die Garantie dafür, dass sich alle Verschiedenheiten des Landes Gehör verschaffen können. Ein Medienraum, der Meinungen respektiert, aber auch Fakten und geprüfte Zahlen. Im Zeitalter alternativer Wahrheiten und in einer Zeit, in der wir lernen müssen, mit künstlicher Intelligenz und dem Datengeschäft zu leben, ist die Präsenz solider und zuverlässiger öffentlicher Medien kein Luxus für die Allgemeinheit.

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