Gilles Marchand

Mit «Play Suisse» in der Inselwelt der Schweiz Brücken schlagen

In diesem Herbst lanciert die SRG eine neue VOD-Streaming-Plattform mit Inhalten aus allen Unternehmenseinheiten, die nach Themen geordnet und systematisch in die Landessprachen untertitelt sind. Play Suisse bietet völlig neue Erfahrungen und ermöglicht Entdeckungsreisen in die kulturelle Vielfalt, die die viersprachige Schweiz einzigartig macht. Zu sehen sind auch neue Spielfilme und Serien sowie von RSI, RTS, RTR und SRF koproduzierte Dokfilme. Play Suisse ist die neue «idée suisse», die Idee einer digitalen Schweiz 4.0, die ganz im Dienst des SRG-Auftrags steht.

Erläuterungen und Interview mit Michel Guillaume, erschienen in «Le Temps» vom 17. Juni 2020.

 

 

Gilles Marchand: «Wir wollen eine Reise auf den Schweizer Archipel anbieten»

Welche Lehren für die SRG ziehen Sie aus der Coronakrise?
Alle Unternehmenseinheiten der SRG haben bewiesen, wie reaktiv und kreativ sie sind. In nur wenigen Tagen wechselten über 4000 Mitarbeitende ins Homeoffice, ohne jede technische Schwierigkeit. Wir haben unsere Programme ans neue Umfeld angepasst und neue Sendungen geschaffen, die sämtliche Rekorde bei den Nutzungszahlen gebrochen haben, was der Lockdown begünstigt haben dürfte. In der Westschweiz erzielte die Hauptausgabe der Tagesschau «19h30» über 80 Prozent Marktanteil, was fast 500 000 Zuschauerinnen und Zuschauern entspricht. In Europa toppt das nur das isländische Fernsehen! Dazu kommen noch die rund 700 000 Personen, die jeden Tag auf RTS Info.ch waren.

Das sind erfreuliche Zahlen, die allerdings in einem Land erzielt wurden, das keine nationale Konkurrenz kennt, ganz im Gegensatz zu unseren Nachbarländern.
Das stimmt. Man darf aber auch nicht vergessen, dass im Schnitt 65 Prozent des TV-Konsums in der Schweiz auf ausländische Sender entfällt. Die hohe Nutzung während der Krise zeigt, dass bei wichtigen Ereignissen die gesamte Schweiz auf die SRG-Kanäle zurückgreift und in die Qualität der gebotenen Informationen vertraut. Unsere Sender haben das Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Wir alle haben eine gemeinsame Realität erlebt, gleichzeitig, unabhängig von Herkunft, Kultur und Sprache.

Und doch brechen Ihre Werbeeinnahmen ein. Wie sieht es finanziell tatsächlich aus?
Sehr schwierig. Bereits vor der Krise mussten wir zwischen 2016 und 2019 einen Verlust von 60 Millionen Franken hinnehmen. Nun dürfte in diesem Jahr wegen der Coronakrise ein weiteres Minus von 15 bis 20 Prozent dazukommen, was einem Rückgang von 100 Millionen in vier Jahren entspricht. Das zwingt uns zu einem heiklen Unterfangen: Wir müssen gleichzeitig sparen und in die Umgestaltung unseres Programmes investieren, damit wir die Publikumsgruppen mit neuem Nutzungsverhalten erreichen.

In diesem Jahr verfügt die SRG über ein Budget von rund 1,5 Milliarden Franken. Wird sie nächstes Jahr rote Zahlen schreiben?
Wahrscheinlich schon. Ich kann aber noch nicht abschätzen, wie hoch das Defizit ausfallen wird. Alles hängt davon ab, ob die Werbung wieder anzieht. Dazu kommen weitere Faktoren wie die Gesundheit unserer Pensionskasse. Das wird sich auch auf unsere Infrastruktur auswirken, auf unsere Programme und auf die Arbeitsplätze. Wir fangen damit an, die benutzten Flächen weiter zu verkleinern und stärker auf Telearbeit zu setzen. Wir sind auch daran, unser Produktionsstandards beim Broadcast zu überarbeiten.

Die Krise hat ja bewiesen, dass Sie ohne grosse Qualitätseinbussen durchaus billiger produzieren können.
Vorsicht! Sie können die SRG nicht auf die Nachrichten reduzieren. Wir müssen auch Film, Musik und Sport berücksichtigen. Es stimmt, dass im Sportbereich von einem Tag auf den anderen der Stecker gezogen wurde, aber im kulturellen Bereich halten wir an unseren Engagements – zum Beispiel gegenüber Festivals und Spielfilmproduktionen – fest. Und die Nachrichtensendungen mussten oft unter schwierigen technischen Bedingungen produziert werden, vor allem wegen der Schaltungen. Während einer Krise mag das gehen, auch weil das Publikum Verständnis dafür aufbringt. Unter normalen Bedingungen sind unser Radio und Fernsehen, die es mit der internationalen Konkurrenz aufnehmen können, etwas ganz anderes als Zoom und Skype!

Eine neue Folge von «Passe-moi les jumelles» kostet rund 200 000 Franken. Könnte man sie nicht auch mit 150 000 Franken produzieren?
Jede Unternehmenseinheit wird ihre Produktionsstandards entsprechend den Programmprioritäten anpassen, und zwar in allen Bereichen. Wir können zum Beispiel darüber diskutieren, wie viel Kameras es für bestimmte Sportwettkämpfe braucht, was eine Minute Spielfilm kosten darf, wie gross unsere Showbühnen sein sollen oder wie viele Tage für den Schnitt bei Magazinsendungen und Reportagen einzuplanen sind. Solche Fragen gehören zum Arbeitsalltag und ich halte es für legitim, unterschiedliche Standards festzulegen.

Wenn die SRG zusehen muss, wie ihre Werbeeinnahmen schmelzen, müsste sie da nicht den Anspruch haben, allein mit den Gebühren durchzukommen?
Das ist ein politischer Entscheid, der mir nicht zusteht. Und noch lässt sich ja mit Werbung Geld verdienen. Mit unserem Geschäftsmodell sind es knapp 150 Millionen Franken. Das entspricht etlichen Programmstunden und einigen Hundert Arbeitsplätzen, die sonst bedroht wären. Ausserdem scheint niemand unter den Schweizer Anzeigenkunden tatsächlich zu wollen, dass die SRG keine Werbung mehr bringt.

Wie können Sie das Publikum halten, das Sie während der Krise dazugewonnen haben?
Wir müssen versuchen, das junge Publikum zu binden. Sie haben eine neue audiovisuelle Welt entdeckt, vielleicht auch Sendungen, die ihnen gefallen haben und die sie bisher nicht kannten. Im Radio braucht es eine Podcastoffensive. Und im Fernsehen wird «Play Suisse» Zugang zu unseren Produktionen aus allen vier Landesteile bieten, und zwar auf eine neue Art. Denkbar ist auch, dass externe Inhalte dazukommen, von anderen europäischen Service-public-Anbietern zum Beispiel oder von Privatsendern.

Wird «Play Suisse» eine Plattform, die den nationalen Zusammenhalt festigen soll, zur Freude von Kommunikationsministerin Simonetta Sommaruga, oder wollen Sie damit tatsächlich das junge Publikum ansprechen?
Bei unserer Arbeit haben wir immer das Publikum vor Augen. Das Projekt soll die Schweiz näher zusammenbringen, wir wollen Brücken zwischen den Sprachregionen schlagen. Mein Wunsch ist es, den Schweizerinnen und Schweizern zu zeigen, wie gut die heimische Produktion ist, indem wir ihnen Inhalte «on demand» in der Sprache ihrer Wahl bieten. Wir haben bei der SRG schon x-mal versucht, zeitgleich Regionen übergreifende Sendungen zu machen, mit mässigem Erfolg. Aber mit diesem neuen Angebot stellen wir die Flexibilität des Digitalen ganz in den Dienst unseres Auftrags. «Play Suisse» wird ein Meilenstein in der Geschichte der SRG.

Bei RTS hiess es bisher immer, dass untertitelte Deutschschweizer Serien in der Westschweiz nicht funktionieren können …
Weil wir gezwungen waren, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für alle zu senden. Heute erlebt das Publikum die SRG nur einsprachig, in einer Art Blase – jeder in der eigenen Region und in der eigenen Sprache. Mit «Play Suisse» und der konsequenten Untertitelung in die Landessprachen können wir in allen Landesteilen völlig neue Inhalte anbieten. Ich gehe davon aus, dass die Jungen ein anderes Verhältnis zur kulturellen Andersartigkeit haben. Und dass sich ein junger Genfer ohne Weiteres für eine Zürcher Musikproduktion interessieren kann – oder für Dokumentarfilme zu gesellschaftlichen Fragen. Allgemeiner formuliert: Wir bieten eine Reise auf den Schweizer Archipel mit all seinen Inseln, die jede Einzelne für einen Kulturraum steht.

 

Mit ihrem künftigen Onlineangebot setzt die SRG auf ihre Rolle als nationales Medium

— Artikel von Nicolas Dufour, erschienen in «Le Temps» am 17. Juni 2020 —

Die «idée suisse» wird zur Realität, wenn auch mit Verspätung. Der Slogan der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft bis Ende 2010 («SRG SSR idée suisse») – gleichermassen gepriesen wie belächelt – wird im Namen der künftigen Plattform des Konzerns, Play Suisse, durch die schweizweite Verwendung des französischen «Suisse» erneut aufgegriffen. Schliesslich ist dieser neue Vektor, der im Herbst lanciert werden soll, mehr als nur ein neuer Zugangsweg zu den Programmen. Er ist Bestandteil des nationalen Auftrags der SRG. Generaldirektor Gilles Marchand ist zufrieden: «Das wird die neue ‹idée suisse›, eine neue Idee der Schweiz. Ein Weg, Brücken zwischen den einzelnen Kulturen des Landes zu schlagen.»

Mit Play Suisse werden Programme der vier Unternehmenseinheiten SRF, RTS, RSI und RTR online zugänglich gemacht, zu Beginn etwa 1500 Titel. Die Inhalte werden in den drei Hauptsprachen und teilweise auch in Rätoromanisch untertitelt. Der Zugang erfolgt über das Internet oder per App (iOS, Apple TV oder Android). Erste Entwürfe legen nahe, dass sich die Benutzeroberfläche schlicht, effizient und technisch auf der Höhe der Zeit präsentieren wird: oben eine Auswahl verschiedener Angebote, dann die aktuelle Wiedergabeliste der Besucherin oder des Besuchers, die jeweilige Liste der favorisierten Sendungen sowie selbst ausgewählte Themen wie Politik, Gesundheit, Natur usw. Gilles Marchand setzt den Schwerpunkt auf solche Thematiken, da sie Programme aus allen vier Regionen enthalten und somit das Herzstück von Play Suisse bilden. Die Empfehlungen beruhen auf Algorithmen und redaktionellen Erwägungen, sie werden also verfasst und nicht einfach automatisch generiert; ausserdem wird es spezielle Angebote geben, zum Beispiel für Schweizer Filmfestivals. Der Service-public-Riese investiert pro Jahr 5 Millionen Franken aus Umverteilungen in die Plattform.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Schweizer Fernsehens kann das Publikum aus der Westschweiz nach Gusto und mit Untertiteln versehen Reportagen, Analysen und fiktive Inhalte aus der deutschen oder italienischen Schweiz anschauen. Was die SRG bei den DVDs versäumt hat – Filme und Serien wurden nicht untertitelt –, das holt sie nun online nach. Kostenlos, aber mit Anmeldung. Das garantiert «die Übertragbarkeit; man kann einfach auf einem anderen Bildschirm weiterschauen – auch im Ausland, wenn man in der Schweiz angemeldet ist. Ausserdem erhält man Informationen über Neuheiten», so Marchand, es ist für ihn «eine originelle Art, die Inhalte der Sender anzubieten». Eine Folge der Sendung «Passe-moi les jumelles» würde dann beispielsweise im Themenbereich «Berge» vorgeschlagen werden. Dies ist eine komplette Abkehr von der linearen Ausstrahlung – eine enorme Herausforderung, seit die Aufmerksamkeit des Publikums Netflix, Disney und ihresgleichen gilt. «Es geht gar nicht darum, sich mit diesen zu messen», erläutert Marchand. Zumal Play Suisse im aktuellen Kampf der Plattformen keine internationalen Ambitionen hat. Eines der Argumente für Play Suisse jedoch ist unschlagbar … es ist kostenlos.

Die Plattform bietet kein Kinderprogramm an, da dieses sich nicht für die Untertitelung eignet, und verzichtet auf Eigenproduktionen. Das gesamte Angebot stammt von den Sendern und aus den Koproduktionen der SRG, ob im Bereich Spielfilm, Dokumentarfilm oder Serie. Zur Ergänzung ihres Angebots verfügt die SRG ausserdem über eine wahre Goldgrube: ihr Archiv, das seit kurzem vollständig digitalisiert ist. Tausende Programmstunden und unzählige Geschichten des Schweizer Lebens aus den letzten Jahrzehnten.

Aber es gibt Grenzen. Die audiovisuelle Industrie ist nämlich in Sachen Rechte unglaublich komplex geworden, und in diesem Dschungel müssen sich die Macher von Play Suisse nun zurechtfinden. Filme und Serien, welche die SRG koproduziert hat, sind nicht ihr Eigentum. Die SRG verfügt über ein beschränktes Senderecht für sechs Monate – gegenüber dem Repertoire privater Anbieter ist das aber immer noch bescheiden. Somit kann es passieren, dass eine Serie der SRG auf Amazon verfügbar ist, nicht aber bei Play Suisse. Auch einzelne Beiträge von «Temps Présent» befinden sich nicht im Fundus der SRG, da sie punktuell gekauft worden sind.

Somit stellt die Initiative der SRG ein Bekenntnis zur eidgenössischen Idee dar, ist aber auch eine Herausforderung für ein Onlineangebot, das besonderen sprachlichen Anforderungen gewachsen sein muss. Gilles Marchand versichert, dass die öffentlichen Fernsehsender in Europa verstärkt zusammenarbeiten wollen. Doch auch dabei gibt es Probleme mit den Rechten. Der nächste grosse Schritt steht bei TV5 Monde an. Der Sender arbeitet an einer französischsprachigen Plattform.

 

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