Das Erbe des 4. März
Die immer wieder totgesagten Medien bleiben ein Thema, das das Publikum anspricht, interessiert und mobilisiert. Zum Teil dürfte dies auch daran liegen, dass Journalisten sehr gerne über Journalisten berichten, ungeachtet der Frage, ob dies das Publikum zuhause ebenso interessiert …
Wie dem auch sei, die «No Billag»-Kampagne zur ersatzlosen Abschaffung des audiovisuellen Service public hat die Schweiz wortwörtlich in ihren Bann gezogen und ganz Europa aufhorchen lassen. Die Kampagne generierte in der Schweiz über 10 000 Artikel. Das sind 50 Artikel pro Tag – in Papier gemessen einige hundert Bäume! 4000 Mal wurde die Kampagne in ausländischen Medien thematisiert. Es gab Hunderttausende von Postings, Kommentaren, Tweets usw. Kurz: Die politischen Kommentatoren sind sich einig, dass die Wellen selten so hoch schlugen wie in diesem Fall. Jetzt, nachdem sich der Sturm einigermassen gelegt hat, stellt sich die Frage nach dem Lerneffekt. Vier Feststellungen dürften nützlich sein für die Zukunft.
Menschen lassen sich auch heute noch mobilisieren!
Die erste Feststellung bezieht sich auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt an sich. Nach wie vor kann die Gesellschaft ungeheure Kräfte freisetzen. Wie viel wurde nicht schon über die Politikverdrossenheit geschrieben, über die rückläufige Stimm- und Wahlbeteiligung und über das Desinteresse an öffentlichen Angelegenheiten … Diesmal aber nicht!
Mit einer Stimmbeteiligung von 55 Prozent, mit intensiven und teilweise hitzigen Diskussionen am Familientisch und beim Sonntagsbrunch sorgte diese Abstimmung im Vorfeld landesweit für eine echte politische Diskussion. Hierbei ging es nämlich nicht nur um die SRG oder die privaten Radio- und Fernsehsender, die einen Teil der Gebühren erhalten. Es ging nicht um die Beliebtheit der einzelnen Programme und Sendungen. Es ging um eine Idee der Schweiz, um den nationalen Zusammenhalt, den respektvollen Umgang mit Minderheiten, Sprachen und Kulturen.
Und – auch dies muss einmal gesagt sein – um zwei Auffassungen von Gesellschaft, die hart aufeinanderprallten. Das eine Lager vertritt eine individualistische, konsumorientierte Gesellschaft die dem durchaus legitimen Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen ist. Das andere steht für eine stärker regulierte Gesellschaft mit dem öffentlichen Wohl als zentralem Wert.
In dieser Frage haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einen klaren Entscheid gefällt. Insbesondere die Jungen haben die Initiative – entgegen aller Prognosen – sehr deutlich abgelehnt.
Neue politische Allianzen
Als Zweites lässt sich feststellen, dass neue politische Allianzen auf den Plan getreten sind. Einerseits sind dies eher desorganisierte Bewegungen mit ultraliberalen Zielsetzungen, bei denen Kalifornien und das Silicon Valley als Aushängeschilder der Modernität gelten. Ihre vermeintlichen Gegenspieler sind konservativere Kräfte mit einer nationalistischen Ausrichtung, die über äusserst effiziente Logistikressourcen verfügen.
Auf den ersten Blick scheinen diese beiden politischen Haltungen einander diametral gegenüberzustehen. In der Frage des Service public stimmen sie aber im Endeffekt überein: die einen wegen der mit ihm verbundenen Auflagen, die anderen wegen der angeblich verzerrten Darstellungen. In beiden Lagern herrscht zudem grundsätzlich Einigkeit darüber, dass die als veraltet, schwerfällig und letzten Endes unnütz geltenden öffentlichen Einrichtungen abgebaut werden müssen.
Das libertäre Lager bedient sich der Schlagkraft der konservativen Seite, um seine Effizienz zu steigern. Die Konservativen benutzen die Libertären, um sich einen modernen, «coolen» Anstrich zu geben. Daraus ergibt sich eine gefährliche Kräftemischung. Sie ist derzeit in verschiedensten Formen in ganz Europa am Werk.
Verwurzelung oder der Kampf der Vielfalt gegen die Gleichmacherei
Die dritte Feststellung: Wurzeln sind wichtig. In einer immer globalisierteren und zugleich desillusionierteren Welt, die durch den Zwang zur unablässigen Vernetzung schrumpft, wird das unmittelbare kulturelle Umfeld immer wichtiger. Nähe hat eine beruhigende Wirkung, man geht davon aus, dass man das nahe Umfeld im Griff hat. Was man kennt, kann man beeinflussen. Hier findet ein zweiter grosser Konflikt statt: der Kampf der Vielfalt gegen die Gleichmacherei.
Die Vielfalt zeigt sich als organisiertes Ganzes aus Unterschieden, Wurzeln und «kleinen Formationen». Die Gleichmacherei tritt als Weltkultur mit riesigen Plattformen auf, die eine einheitliche Welt in überall identische Algorithmen gliedern, von New York über Paris, Sydney und Moskau bis Schanghai.
Am 4. März hat die Schweiz ein Zeichen gesetzt; ein Zeichen für ihre eigenen Erzählformen, ihre Musikgenres, ihre persönlichen Bilder und ihr kollektives Gedächtnis. Es stimmt zwar, dass Apple die Schweiz als Testmarkt, als Heiligen Gral für die Einführung neuer iPhones nutzt. Deswegen hat die Schweiz aber ihren Dialekten, ihren typischen Aromen und ihren Regionen noch lange nicht abgeschworen. Wer dies nicht versteht, versteht die Schweiz nicht.
«Häsch mini Nachricht gläse?» wird zu «Häsch mi gseeh?»
Viertens und letztens: Audiovisuelles hat einen hohen Stellenwert. Videos zeigen die Welt, Klänge lassen sie uns vorstellen. Beide zusammen bilden ein gemeinsames Narrativ, beide zusammen ergeben ein Selbstbild. Der Philosoph Régis Debray hat diese Entwicklung vor Kurzem etwas betrübt so zusammengefasst: Seine Generation sei vom «Hast du meine Nachricht gelesen?» zum «Hast du mich gesehen?» übergegangen. In einer fragmentierten Gesellschaft, die das Individuum unablässig beansprucht, sind die linearen Konstruktionen der Schriftlichkeit schwierig: Bei A anzufangen und bis Z weiterzufahren ist heutzutage kaum mehr möglich.
In diesem neuen soziologischen Umfeld haben die audiovisuellen Medien die besseren Karten. Daher versuchen Zeitungen, ihre Texte mit Bild- und Toneffekten anzureichern und sie über neue digitale Kanäle an die Leserschaft zu bringen.
Unter diesem Aspekt stellt das potenzielle komplette Verschwinden des audiovisuellen Service public in der Schweiz, diesem winzigen und zudem in vier Sprachregionen gegliederten Kulturraum, eine beklemmende Aussicht dar. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben pragmatisch und vernünftig gewertet und sind zur Ansicht gekommen, dass der Markt keinen vollwertigen Ersatz für dieses Angebot darstellen kann. Mit der Abschaffung der Gebühren würden auch die audiovisuellen Medien in der Schweiz abgeschafft. Oder auf jeden Fall diejenigen unter ihnen, die den mächtigen Sendern in den Nachbarländern und den weltweiten Plattformen etwas entgegenzusetzen haben. Diejenigen unter ihnen, die auch in unrentable kulturelle Produktionen reinvestieren. Die Schweiz hat spontan auf breiter Front gegen diese angekündigte Katastrophe mobil gemacht.
Kein Freipass
Ist dieses historische Abstimmungsergebnis nun ein Freipass für einen Service public, der in einer chaotischen, ausgeplünderten und verwüsteten Medienlandschaft Jahr für Jahr unbeirrt weitermachen kann wie bisher? Mitnichten!
Die Schweizer Zivilgesellschaft hat sich gegen die organisierten zerstörerischen Kräfte und die leichtsinnigen Totengräber aufgelehnt. Zahlreiche Länder haben mit Bewunderung auf diese politische Reife reagiert. Dies bedeutet aber keineswegs, dass man sich nach einer Fortführung des Status quo sehnt. Die Gesellschaft will sich auch in Zukunft in einem modernen, gemeinschaftlichen, audiovisuellen Instrument reflektieren, das seinen Teil beiträgt zum neuen Medienökosystem. Daher herrscht ein massiver Erwartungsdruck. Verlangt werden Qualität, Differenzierung, Haltung, Offenheit und Effizienz.
Deshalb liegt der Fokus auf Unterscheidbarkeit dank ausgewogener und unabhängiger Berichterstattung in den vier Landessprachen und auf mehr Kulturförderung, insbesondere im Bereich der Fiktion. Das nationale Bewusstsein soll über eine thematisch organisierte und personalisierbare Plattform, die Inhalte aus allen Sprachregionen anbietet, gestärkt werden. Fremdsprachige Angebote werden, wo sie sich nicht synchronisieren lassen, untertitelt. Ausserdem soll die Zusammenarbeit mit anderen Schweizer Medien und Kulturinstitutionen gestärkt werden. Der verantwortungsbewusste Umgang mit den öffentlichen Mitteln steht im Zentrum. Dies sind unsere Prioritäten.
Das Abstimmungsergebnis vom 4. März nimmt den schweizerischen Service public in die Pflicht. Wir stellen uns dieser Aufgabe und werden unsere Pflicht gewissenhaft erfüllen.
Gilles Marchand
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