Gilles Marchand

«Das Schicksal der Demokratie wird von der Fähigkeit abhängen, qualitativ hochwertige Informationen zu produzieren und zu verbreiten.»

Meinungsbeitrag erschienen in der Zeitung Le Monde vom 15. April 2022

Die Debatte über die Finanzierung des medialen Service public ist lanciert, unter anderem in dieser Zeitung. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft tauchen verschiedene Vorschläge auf, die vom Ersatz der Gebühren durch einen Mittelzuweisung bis hin zur Privatisierung des gesamten Sektors reichen.

Zweifellos, es ist ein sensibles Thema. Es betrifft ein fragiles Ökosystem, das unter dem internationalen Druck der Streaming-Plattformen leidet und von den sozialen Netzwerken umgepflügt wird. Das Thema begeistert auch die Politik, die sich dem Reiz hingibt, gleichzeitig Regulator:in, Kund:in und Konsument:in der Medien zu sein. Die Schweiz mit ihrem Modell der direkten Demokratie ist ein interessantes Versuchslabor. Denn in diesem kleinen, mehrsprachigen und multikulturellen föderalen Staat kann die Bevölkerung durch eine Abstimmung über das Schicksal ihres Service public entscheiden.

Das Versuchslabor «Schweiz»

Die SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) ist somit der einzige Service public in Europa, der direkt mit dem allgemeinen Stimmrecht konfrontiert wurde. Eine Volksabstimmung im Jahr 2018, die darauf abzielte, jede Form der öffentlichen Finanzierung abzuschaffen, hat das Land in Aufruhr versetzt, das wie nie zuvor über die Radio-, TV- und Online-Programme der SRG debattierte. Und das audiovisuelle Europa verfolgte mit Erstaunen dieses Gezerre um das Für und Wider der Existenz des medialen Service public. Schliesslich, nach einer sehr intensiven Kampagne, war das Urteil an der Urne eindeutig: über 70% sprachen sich für den öffentlichen Dienst und eine Gebühr von zu diesem Zeitpunkt ca. 360 Euro pro Jahr und Haushalt aus!

Trotz dieses Erfolgs wurde jüngst eine neue Volksinitiative angekündigt. Sie befindet sich derzeit in der Phase der Unterschriftensammlung (es werden 100.000 Unterschriften benötigt, um eine Abstimmung zu lancieren) und zielt diesmal darauf ab, die Mittel der SRG um 50% zu kürzen. In dieser chronischen Feindseligkeit gegenüber dem medialen Service public lassen sich vier grosse Denkströmungen erkennen, die sich summieren oder ineinander übergehen.

Erstens: Eine klassische politische Strömung ist der Ansicht, dass der mediale Service public eher links orientiert ist und daher geschwächt werden muss. Ebenfalls im politischen Umfeld ist eine neoliberale Bewegung ihrerseits der Ansicht, dass der mediale Service public zugunsten des Marktes und privater Akteure zurückgedrängt werden sollte. In einer eher gesellschaftlichen Dimension findet man diejenigen, die der Meinung sind, dass die öffentlichen Medien zu Propagandaeinrichtungen im Dienst des Staates geworden sind und im Namen der Freiheit bekämpft werden müssen. Diese Tendenz wurde durch Covid-19 angekurbelt. Schliesslich gibt es noch ein konsumorientiertes Publikum, das nichts gegen die Service-public-Medien als solche hat, aber nur für das bezahlen will, was es auch konsumiert. Diese oftmals jungen Gegner:innen lehnen das Prinzip der Zwangsgebühren ab.

Auf diese Kritik reagiert die SRG mit den Werten Unabhängigkeit, Unparteilichkeit sowie Vielfalt der Themen und Blickwinkel. Die Förderung der Kulturen und die Repräsentation der Schweizer Sprachregionen stehen im Mittelpunkt ihres Engagements. Ihre Legitimität beruht auf der Einhaltung dieser Anforderungen und nicht auf einem rein transaktionalen Ansatz.

Empörung und soziale Fragmentierung

Die Debatte über den medialen Service public ist von entscheidender Bedeutung und findet in einer Gesellschaft statt, die sich zunehmend fragmentiert. Der Individualismus, die Vielzahl sektoraler Anforderungen und die Zunahme unnachgiebiger Minderheiten führen zu einer Zersplitterung des sozialen Gebildes. Diese Spaltungen geschehen in einem Klima, in dem Emotionen, Empörung und Vereinfachungen, die von den technologischen Revolutionen getragen werden, die Vernunft, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann, verdrängen.

Die Herausforderung besteht also darin, Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen, die weniger durch Territorien und Institutionen, sondern vielmehr durch Gefühle, Identitäten oder eine digitale Gemeinschaft zusammengehalten werden. In einer atomisierten Gesellschaft besteht die Gefahr, dass das Gemeinwohl geschwächt wird. Jede:r tendiert dazu, die Achtung vor den Institutionen von der Erfüllung der persönlichen Erwartungen abhängig zu machen. Das öffentliche Interesse ist jedoch nicht die Summe aller Partikularinteressen. Es ist vielmehr die Überwindung der Partikularismen durch ein gemeinsames Vorhaben. Eine Gesellschaft braucht gemeinschaftliche Visionen, Solidarität und Kompromisse, um ihre inneren Widersprüche zu überwinden, Sinn zu stiften und sich gut zu verwalten.

Informationen als Gemeingut des 21. Jahrhunderts

Die Demokratie in ihrer modernen Ausprägung ist eine Absicht, ein Ziel, ein nie abgeschlossener Prozess, um Gemeinwohl zu schaffen. Nun gibt es aber keine Demokratie ohne Informationen und ohne einen öffentlichen Bereich, in dem diese verarbeitet werden. Diese beiden Elemente bilden die Luft, die sie atmet. Aber heutzutage sind genaue und geprüfte Informationen, unparteiische Debatten und eine solide Dokumentation der Meinungen eine erhebliche Herausforderung. Noch nie war das Misstrauen gegenüber jedem autorisierten Wort so gross. Noch nie waren Massenmanipulationen so mächtig und wirksam. Wir beobachten dies auf tragische Weise im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine.

Im Klartext: Angesichts der rasanten digitalen Ströme und der schwindenden Orientierungspunkte wird die Information zu einem grundlegenden Gut des 21. Jahrhunderts. Das Schicksal der Demokratie von morgen wird von ihrer Fähigkeit abhängen, qualitativ hochwertige Informationen zu produzieren und zu verbreiten, die fundierte, sicherlich kontroverse, aber aufgeklärte Debatten ermöglichen.

Diese neue demokratische Gleichung entwickelt sich zu einer Zeit, in der die Medien geschwächt sind. Die digitale Revolution trifft ihr Wirtschaftsmodell mit voller Wucht. Es stellt sich also die Frage nach ihrer Finanzierung. Eine klare Unterstützung, die von einem System begleitet wird, das Rechte und Pflichten festlegt, ist von nun an unerlässlich, damit Angebote, die in unseren europäischen Realitäten verankert sind und der digitalen Revolution standhalten, fortbestehen können. Hier kommt der mediale Service public ins Spiel. Seine Daseinsberechtigung besteht darin, sich an alle Menschen zu richten, alle Meinungen darzustellen, ohne sein Publikum oder seine Botschaften zu selektionieren. Um dies zu erreichen, muss er nachhaltig finanziert sein und gleichzeitig Rechenschaft über sein Tun ablegen. Also besteht die Herausforderung des Jahrhunderts darin, die Demokratie mit qualitativ hochwertigen Informationen zu versorgen. Das ist die eigentliche Debatte, die geführt werden muss.

 

Gilles Marchand
Generaldirektor SRG SSR

 

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