Gilles Marchand

Die SRG mischt im Kampf um den Streaming-Markt mit

 

— Ein Interview von Chefredaktor Ludovic Chappex, veröffentlicht am 14. Februar 2020 im Swissquote Magazine

 

Das Schweizer Medienhaus lanciert im Herbst eine Plattform mit On-Demand-Inhalten. Generaldirektor Gilles Marchand stellte sich am Hauptsitz der SRG in Bern unseren Fragen.

 

 

Hier also, an diesem grossen Konferenztisch aus Holz, der am Rückzugsort von Gilles Marchand auch als Arbeitstisch dient, werden die Schicksale der SRG mitentschieden. In einer Ecke senden zwei aufeinandergestellte Fernseher hauseigene Programme: An diesem Montag, 27. Januar, sind es Bilder aus Melbourne von einem nächtlichen Tennismatch: Raphaël Nadal scheint die Stärke von Nick Kyrgios abmessen zu wollen, der Ton ist auf stumm gestellt. «Den Tisch habe ich mitgenommen, als ich von RTS hierher kam», sagt der gebürtige Lausanner und frühere Direktor von Télévision suisse romande lächelnd. 2017 wurde er zum Generaldirektor der SRG ernannt. Seither lenkt er die Geschicke der SRG vom 10. Stock am Hauptsitz des Konzerns aus. Von Marchand weiss man, dass er eine ausgeprägte Gabe zum Antizipieren hat und den Medienmarkt im In- und Ausland wie seine Westentasche kennt. Er entwirft die Zukunft der SRG, in der das Streaming und die digitalen Herausforderungen der audiovisuellen Branche dominieren.

Swissquote Magazine: Die SRG lanciert im Herbst 2020 eine breit angelegte Streaming-Plattform. Was ist das Ziel dieses neuen Dienstes?
Gilles Marchand: Die heutige Mediennutzung verlangt nach zusätzlichen On-Demand-Angeboten und immer weniger nach klassisch linearen Programmen. Mit diesem Projekt reagieren wir auf eine starke Nachfrage einerseits und andererseits auf unsere Erfahrungen als Service-public-Anbieterin. Es ist ein entscheidender Schritt für die SRG, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte ihre Programminhalte nicht mehr nach Sprachregionen, sondern nach Themen anbieten wird. Sie werden schweizweit in den Originalversionen mit Untertiteln in den Landessprachen zur Verfügung gestellt. Wir gehen davon aus, dass die Inhalte aus einer Region auch viele Menschen in den anderen Sprachregionen interessieren könnten.

Welche Inhalte werden abrufbar sein?
Vor allem Spielfilme und Dokumentarfilme, als Einzelsendung oder als Serie. Diese beiden Genres eignen sich gut zur Wiedergabe «à la carte» und zur thematischen Gliederung. So kann zum Beispiel eine Suche mit dem aktuellen Schlagwort «Pandemie» zu Reportagen führen, die in den einzelnen Sprachregionen produziert wurden. Wir werden auch eine Auswahl an Beiträgen anbieten, bei denen die SRG Produktions-Partnerin ist. Die Nutzerinnen und Nutzer können sich kostenlos registrieren und die Sprache für die Benutzeroberfläche der Plattform wählen. Wir unterbreiten ihnen dann interessante Vorschläge. Die erhobenen Daten werden gesichert und nicht kommerziell genutzt. Unser Ziel ist es, die Technologie in den Dienst unseres Service-public-Auftrages zu stellen.

Wie sieht es mit Sport und News aus?
Diese Inhalte kommen nicht auf die Plattform. Wir glauben, dass sich die lineare Ausstrahlung für diese Themen auch weiterhin sehr gut eignet. Tennis können Sie aber natürlich weiterhin zum Beispiel auf srf.ch oder rts.ch schauen. Alle Portale unserer Unternehmenseinheiten bleiben frei zugänglich.

Werden auf der neuen Plattform bestimmte Inhalte exklusiv angeboten?
Unsere Idee zielt eher darauf ab, eine andere Art der Nutzung unserer Produktionen anzubieten. Alle Inhalte werden über die traditionellen Kanäle linear ausgestrahlt und dann als Streams on demand zugänglich gemacht. Der Zugriff auf das Angebot wird über verschiedene Wege möglich sein: über Internet und Apps, aber auch über das klassische Fernsehgerät. Wir sind zurzeit mit den Telekom-Anbietern im Gespräch und mit allen anderen, die sich für das Angebot interessieren.

Apropos Spielfilme: Wird die SRG dereinst mit den besten dänischen Serien konkurrieren können?
Genau das ist unser ehrgeiziges Ziel: Und wir sollten Kanada, Belgien und Israel nicht vergessen, deren Serien auch überzeugen. Ja, ich halte es für möglich, dieses Qualitätsniveau anzupeilen. Bisher war das Produktionsvolumen in der Schweiz aber zu klein, um genügend Know-how zu erwerben. Mit der Aufstockung unserer Investitionen in die Fiktion,dem systematischen Synchronisieren und Untertiteln und der Ausstrahlung in allen Landesteilen, müsste es möglich sein, diesen Rückstand wettzumachen.

Sind internationale Ambitionen für eine SRG überhaupt realistisch?
Wenn wir eine Serie mit Minderheitsbeteiligung mit einem französischen oder deutschen Sender koproduzieren, wird sie nie in der Schweiz gedreht. Das Casting wird von dem Land bestimmt, das sich finanziell am stärksten einbringt. Wenn wir im Ausland wahrgenommen werden wollen, müssen wir in der Schweiz produzieren. Eines unserer weiteren Ziele ist es, die Schweiz anders als über die Nachrichten zu erzählen, als Teil einer Art «Soft Power», die wir entwickeln wollen und die unserem Auslandsauftrag entspricht.

Werden auch Podcasts in die neue Plattform integriert?
Es handelt sich in erster Linie um eine Videoplattform. Die Nutzererfahrung unterscheidet ziemlich klar zwischen Video und Audio. Ich will langfristig eine audiospezifische Plattform nicht ausschliessen. Aber beim Audio ist die Aufgabe noch herausfordernder als beim Video, weil ein gemeinsamer Zugriff für alle Sprachen schwer vorstellbar ist.

Innerhalb der SRG kommen viele digitale Innovationen von RTS, wie Nouvo, die App Play RTS oder die neue Sendung zu den Videogames, die gerade auf Twitch lanciert wurde – um nur einige Beispiele zu nennen. In der Deutschschweiz scheint man weit weniger experimentierfreudig zu sein. Weshalb?
In der Westschweiz gibt es in der Tat traditionell viel Pioniergeist. Aktuell zeigt sich das beispielsweise auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und der Archivverwaltung. Im audiovisuellen Bereich sprechen meines Erachtens konjunkturelle Gründe dafür. Mit ihrem Bezug zur gesamten Frankophonie sind die Westschweizer Sender stärker international ausgerichtet. Aber auch die Deutschschweiz ist schon seit einigen Jahren sehr innovativ. So mischt sie etwa beim Radio ganz vorne mit. Und in der italienischen Schweiz positioniert sich RSI mit einem Studio, das Youtubern offensteht.

Gibt es Unterschiede bei den Nutzungsgewohnheiten zwischen der Deutschschweiz und der französischen Schweiz?
Ja, die gibt es. Interessant zu beobachten ist zum Beispiel, wie stark Instagram in der Deutschschweiz im Vergleich zur Westschweiz ist. Facebook hingegen ist in der französischen Schweiz nach wie vor präsent, verliert aber in der Deutschschweiz an Boden. Die kulturellen Einflüsse von Frankreich bzw. Deutschland spielen hier eine Rolle.

Zurück zu den SRG-Plattformen: Wie gross ist der Anteil am Publikum, der sich Ihre Sendungen über die Websites ansieht?
Der Anteil wächst kontinuierlich. Unsere Reichweite über die linearen Kanäle schrumpft, was im Übrigen für ganz Europa gilt. Die On-Demand-Nutzung nimmt zu, was uns vor Schwierigkeiten stellt, denn unser Finanzierungsmodell ist ein gemischtes: Historisch stammen 75 Prozent unserer Mittel aus Gebühren und 25 Prozent aus kommerziellen Einnahmen. Und weil es uns rechtlich verboten ist, auf den digitalen Kanälen Werbung zu zeigen, entgehen uns Einnahmen. In dem Punkt sind wir blockiert.

Erscheint Ihnen das ungerecht, zumal die meisten Medien auch Videos und Audios produzieren?
Ich werde Ihnen hier nicht widersprechen (lacht). Das ist tatsächlich ein aktuelles Thema. Die entscheidende Frage aber ist breiter. Es geht um das Nebeneinander verschiedener nationaler Medien in einem winzigen Markt, der von der Gesamtheit der internationalen Akteure bedrängt wird. Einige Verleger waren der Meinung – und sehen es heute vielleicht etwas anders –, dass sie noch mehr Geld verlieren würden, wenn sich die SRG im Digitalen weiterentwickelt. Sie haben sich deshalb gegen diese Option gestellt. Wir sagen ihnen: Nicht wir sind eure Konkurrenz. Die echte Gefahr kommt von den internationalen Plattformen aus den Vereinigten Staaten.

Wäre es im Kampf gegen die GAFA, die die Werbeeinnahmen absaugen, nicht genau der richtige Moment, dass die Schweizer Verleger das Kriegsbeil endlich begraben?
Eine solche Allianz ist einer meiner langgehegten Wünsche. Gemeinsam könnten wir den Medienplatz Schweiz besser verteidigen. Wir sind viel zu klein, um uns gegenseitig zu zerfleischen. Würden wir die digitalen Inventare der SRG mit jenen der anderen Medienhäuser zusammenführen, könnten wir mehr Schweizer Werbung anziehen.

Eine solche Entwicklung scheint aber nicht zuoberst auf der Agenda zu stehen …
Dafür müssten die Verleger überzeugt sein, dass es sich für sie lohnen würde. Das ist heute noch nicht ganz so.

Gibt es heute schon Projekte im technischen Bereich, die Sie zusammen durchführen können, mögliche Konvergenzen?
Ja, das ist der Fall. Die SRG ist z. B. beim Projekt Schweizer Digital-Allianz mit NZZ, Ringier, Tamedia und CH Media mit dabei. Ziel ist ein freiwilliges Login, um auf die Titel der teilnehmenden Medien zugreifen zu können.

Oder ein anderes Beispiel: 2018 haben wir den Swiss Radioplayer lanciert. Die App vereint sehr viele Schweizer Radios, öffentliche wie private. So kommt eine kritische Masse zusammen, was zum Beispiel nützlich ist, um die Automobilhersteller davon zu überzeugen, unsere Radioprogramme standardmässig in den neuen Modellen einzurichten.

Dann sind wir bei der «Initiative for Media Innovation» (IMI) dabei, einem Kompetenzzentrum der ETH Lausanne, die mit verschiedenen Medienhäusern, Universitäten und RTS zusammenarbeitet. Derzeit laufen mehrere Projekte, darunter eine sehr spannende Arbeit zu Algorithmen, die Fake News aufspüren. Diese Innovation dürfte sowohl die Presse als auch die audiovisuelle Branche interessieren. Sie wird allen Partnern zur Verfügung gestellt.

Ist die SRG auch international in digitale Projekte involviert?
TV5 Monde wird mit TV5 Monde plus dieses Jahr ein grosses digitales On-Demand-Angebot entwickeln, an dem wir eng beteiligt sind. Die Plattform wird Sendungen umfassen, für die die weltweiten Rechte freigegeben wurden. Insbesondere die Kanadier sind in diesem Projekt sehr aktiv. Mit Blick auf das kulturelle Erbe ist das eine Möglichkeit, das Beste der französischsprachigen Welt à la carte anzubieten.

Was halten Sie vom Projekt Salto, der Video-on-Demand-Plattform der französischen Veranstalter TF1, M6 und France Télévisions, die für dieses Jahr angekündigt ist?
Ich beobachte, dass die nationalen Anbieter, seien sie öffentlich oder privat, gut daran tun, sich zu verbünden, um gegen den Ansturm der weltweiten Kataloge standzuhalten. Ein kurzer Blick auf den Katalog von Disney reicht, um zu begreifen, dass es ratsam ist, das Beste der heimischen Produktion zusammenzulegen, um gegen die Lawine, die da anrollt, anzukommen.

Zum hitzigen Konkurrenzkampf, den sich die Sender liefern: Wie sehen Sie die Zukunft der SRG beim Sport? Wird der Schweizer Service public in fünf Jahren noch hochkarätige Sportereignisse übertragen?
Hier muss man unterscheiden. Ja, wenn es um Olympische Spiele, die Fussball-WM oder typisch schweizerische Sportarten wie Ski geht. Weit schwieriger werden dürfte es etwa bei der UEFA Champions League. Das gegenseitige Überbieten um Fernsehrechte – eine Folge des Markteintritts neuer Akteure wie Swisscom – ist beispiellos. Meiner Meinung nach ist das sehr kurzfristige Denken der Rechteinhaber falsch. Sobald die Zuschauer systematisch bezahlen müssen, um die Spiele zu sehen, werden die Nutzerzahlen zurückgehen. Dann kommen die Probleme mit den Sponsoren, die sich beschweren werden, weil sie weniger Menschen erreichen.

 

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