Gilles Marchand

Information ist das kollektive Gut des Jahrhunderts

Wir leben in einer immer stärker fragmentierten Gesellschaft. Individualismus, lauter werdende Forderungen einzelner Kreise, vermehrt unnachgiebige Minderheiten und eine Form des Egoismus, bei dem jede noch so kleine Gruppe ihre eigenen spezifischen Interessen verteidigt, lassen den Zusammenhalt der Gesellschaft bröckeln.

Diese Spaltungen erfolgen in einem Kontext, in dem Emotionen, Empörung und übermässige Vereinfachung die Vernunft übertönen; sie kann sich oft nur noch schwer Gehör verschaffen. Die technologischen Revolutionen und die Digitalisierung haben uns in ein Zeitalter von Buzz, Clash und Unmittelbarkeit geführt und eine Gratiskultur geschaffen, die die Menschen an ihre Smartphones fesselt.

Die Herausforderung besteht heute also darin, das gesellschaftliche Band zwischen den Individuen aufrechtzuerhalten, die weniger durch Territorien und Institutionen als durch Sensationsempfindungen, durch eine digitale Identität oder Gemeinschaft verbunden sind.

In einer zerstückelten Gesellschaft besteht die Gefahr, dass das öffentliche Interesse in den Hintergrund rückt und sogar ganz vernachlässigt wird. Die Menschen tendieren dazu, ihre Achtung vor Institutionen von der Erfüllung ihrer persönlichen Erwartungen abhängig zu machen. Das öffentliche Interesse ist jedoch nicht die Summe aller Partikularinteressen. Im Gegenteil: Es ist das Überwinden von Partikularinteressen dank einer gemeinsamen Vision und der Suche nach dem Gemeinwohl. Es besteht die Gefahr, dass das, was die einzelnen Individuen verbindet, nur noch ein gemeinsamer Protestwille ist. Dann würden wir uns von einem solidarischen «Wir», auf dem unsere Gesellschaft aufbaut, hin zu einer Ansammlung antagonistischer «Ichs» bewegen, die nur noch zusammenkommen, um das solidarische «Wir» zu zerstören.

Ohne Konsens als Grundlage eines gemeinsamen Willens kann die Schweizer Gesellschaft nicht funktionieren. Sie braucht Kompromisse, gemeinsame Visionen, Solidarität und auch eine gute Führung, um Widersprüchlichkeiten zu überwinden und Sinn zu schaffen.

Die Demokratie in ihrer modernen Form ist eine Absicht, ein Ziel, ein sich nie vollendender Prozess, der das Gemeinwohl herbeiführen soll.

Den freien Willen kultivieren

Die Demokratie in ihrer humanistischen Perspektive basiert auf dem freien Willen der Bürgerinnen und Bürger. Dieser kann sich ohne die Kenntnis und Prüfung von Fakten und Ansichten, die die Gesellschaft bewegen und prägen, nicht entwickeln. In anderen Worten: Ohne Information und ohne einen öffentlichen Raum, in dem sie eingeordnet werden, gibt es keine Demokratie. Diese beiden Elemente bilden die Luft, die sie zum Atmen braucht.

In einer atomisierten und digitalisierten Gesellschaft, wie wir sie heute kennen, sind exakte Information, unparteiische Debatten und informierte Meinungsbildung enorme Herausforderungen. Eine auf klassische Art vermittelte schlüssige Argumentation reicht nicht mehr aus, um eine Debatte zu prägen. Es reicht nicht mehr aus, dass Institutionen sich äussern, damit sie gehört werden. Im Gegenteil: Noch nie war das Misstrauen gegenüber Autoritäten so gross. Noch nie war die Manipulation der Massen so einfach und wirkungsvoll. Wir erleben erst gerade einen Vorgeschmack dessen, was «deep fakes» anrichten werden können.

Angesichts des unaufhörlichen digitalen Stroms von Meldungen und des Verschwindens von Orientierungspunkten liegt es auf der Hand, dass Information im 21. Jahrhundert zu einem unverzichtbaren Gut wird. Das Schicksal der Demokratien von morgen wird von ihrer Fähigkeit abhängen, qualitativ hochwertige Informationen zu produzieren und zu verbreiten, die eine gehaltvolle und spannungsgeladene, aber immer kompetente Debatte ermöglichen.

Diese neue demokratische Gleichung, in der qualitativ hochwertige Informationen zu einem unverzichtbaren Gut werden, enthält noch eine weitere Unbekannte: die Fähigkeit der Medien, diese Informationen auch bereitzustellen. Die digitale Revolution trifft die Medien gerade mit voller Wucht. Ihr Geschäftsmodell wackelt. Das Publikum dreht ihnen zunehmend den Rücken zu, um sich anderen vernetzten Angeboten zuzuwenden.

Es stellt sich also die derzeit heiss diskutierte Frage nach der Finanzierung der Medien und deren sehr wichtigen Aufgabe. Natürlich ist die öffentliche Hand, der Staat, seit jeher darum bemüht, allgemeine Rahmenbedingungen zu schaffen, die das reibungslose Funktionieren der Institutionen gewährleisten. In der gegenwärtigen strukturellen Krise muss man aber noch weiter gehen. Die Demokratie ist keine unumstössliche Realität und Bürgerinnen und Bürger können neue gesellschaftliche Verhaltensweisen finden, um ihren freien Willen ausdrücken.

Daher ist es unerlässlich, die Medien zu unterstützen und ihre Rechte, aber auch ihrer Pflichten zu definieren. Nur so sind sie in der Lage, Angebote zu entwickeln, die der digitalen Revolution und deren Vorreitern auf der ganzen Welt standhalten können. Hier kommen insbesondere die Service-public-Medien ins Spiel. Ihre Daseinsberechtigung liegt darin, dass sie die gesamte Bevölkerung ansprechen und Debatten anregen, ohne sich ihr Publikum oder die vermittelten Botschaften auszusuchen.

Die Gefahr der Lähmung durch zu grosse Spaltung

Alle beschriebenen soziokulturellen Phänomene betreffen die Schweiz im Besonderen. Die direkte Demokratie, unser Konkordanzsystem, die wechselnde Verteilung von Macht und Gegenmacht, unsere territoriale Fragmentierung und kulturelle Vielfalt erfordern eine starke, gefestigte politische Agora, die mit hochwertigen Informationen alimentiert wird.

Die Willensnation Schweiz muss sich zusammenraufen und immer wieder einen Konsens finden. Im Gegensatz zu vertikaler organisierten politischen Systemen kann sie sich nicht auf ein dynamisches Wechselspiel verlassen.

Wenn sich in der Schweiz die digitale Atomisierung zur natürlichen Fragmentation gesellt, ohne dass dem etwas entgegengestellt wird, besteht die Gefahr, dass durch die übermässige Spaltung eine Lähmung eintritt. Die Schweiz würde zu einer direkten Demokratie, die sich selbst blockiert. Deswegen sind aktuell Überlegungen rund um die Situation der Medien zentral. Die Branche ist von zahlreichen Kämpfen geprägt, die es ihr verunmöglichen, sich gemeinsam für die künftigen Herausforderungen zu wappnen. Es gibt Spannungen zwischen verschiedenen Interessengruppen, zwischen privaten und öffentlichen Akteuren, zwischen Sprachregionen und zwischen einer liberalen Weltanschauung und dem Wunsch nach mehr staatlicher Regulierung. Diese Rivalitäten erschweren die Bewältigung der Herausforderungen. Qualitativ hochwertige Information, ein unverzichtbares Gut des 21. Jahrhunderts, liegt in der Verantwortung der Gemeinschaft, in welcher Form auch immer. Diese aktuelle Debatte verdient es geführt zu werden.

 

Gilles Marchand
Generaldirektor SRG SSR

 

Innovation, Medien und digitale Transformation

Im Video spricht Gilles Marchand mit Professor Patrick-Yves Badillo. Das Gespräch, aufgezeichnet am 11. November 2021 in Bern, wird Teil sein eines MOOC an der Universität Genf mit dem Titel «Innovation, Medien und digitale Transformation».

 

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