Gilles Marchand

Medien: Bauchweh in der Medienküche

Diese Chronik ist im Edito Magazin im Rahmen eines Dossier über das Vertrauen der Medien erschienen.

Kann man den Medien vertrauen?

Auch in unserer unsicheren Welt steht eines fest: Vertrauen lässt sich nicht verordnen. Da hilft kein tugendhaftes Mäntelchen, da hilft auch kein beschwörendes «Hand aufs Herz». Vertrauen ist wie ein komplexes Menü, das langsam und auf kleinem Feuer köchelt. Bis es auf den Tisch kommt, muss es immer wieder probiert und abgeschmeckt werden … Das Menü ist raffiniert. Es umfasst zahlreiche Zutaten, die sich nicht einfach im nächsten «Ideen»-Supermarkt finden. In der Medienküche herrscht schon seit einiger Zeit ein heilloses Durcheinander.

Lange galten die Journalisten als Chefköche des komplexen Menüs namens Vertrauen. Es gab ja auch niemand anderen, der zuständig gewesen wäre. Was in der Zeitung stand, musste ja wohl wahr sein! Doch dann kam das Fernsehen und «Ich hab‘s am TV gesehen» galt plötzlich als Siegel für zuverlässige Informationen. Aber auch diese Zeit war nicht von langer Dauer. Zunächst wurden Experten aller Art zugezogen, ohne deren sachverständige Meinungen kein Medienmenü mehr auskommen konnte. Eine Prise Expertentum entsprach drei Esslöffeln journalistischer Arbeit!

Ende des letzten Jahrhunderts kamen dann die interaktiven Medien auf und würzten das Informationsmenü mit ihrer unwiderstehlich pikanten Schärfe: Unmittelbarkeit und Teilhabe.

Immer sofort informiert – zu welchem Preis?

Unmittelbarkeit und Komplexität lassen sich kaum vereinbaren. Aber die Küche musste schnell und innovativ sein, auch wenn den Zutaten eine etwas längere Zeit auf dem Feuer vielleicht gutgetan hätte. Nun traten viele Köche auf den Plan: Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer mixten sich ihre Sauce aus Meldungen und Meinungen selber zusammen. Sie stellten die Altmeister und ihre traditionellen Rezepte radikal und lustvoll infrage. Sie experimentierten mit neuen Mengenangaben und Kochzeiten. Dann luden sie sich gegenseitig zum «Essen» ein und liessen dabei die Redaktionen mit ihren langsamen und ehrlich gesagt auch eher faden Menüs links liegen. So traten die sozialen Medien mit ihrer Schwarmmentalität auf den Plan und nahmen alles mit, was sich am Wegrand fand.

Schliesslich kamen auch die Geschäftsmodelle der Medienküchen unter Druck: Köche sind teuer, die Kunden zahlen nicht mehr, sie wollen sofort nach Lust und Laune essen. Daher werden die echten Köche immer weniger— und immer mehr Leute rühren in ihren Töpfen.

Und der Geschmack wird immer einheitlicher. Die Suppen schmecken allmählich alle gleich. Manche von ihnen schmecken überhaupt nicht mehr, weil man wild Zutaten in den Topf wirft, um das Publikum anzuziehen. Manche Mischungen von übereifrigen Kochlehrlingen können sogar giftig sein.

Das verursacht den Medienküchen in Europa Bauchweh – und löst eine Vertrauenskrise aus. Die Europäische Kommission hat vor Kurzem in 33 Ländern eine Umfrage durchgeführt. Sie zeigt, dass 55 Prozent der Europäerinnen und Europäer dem Radio vertrauen, 45 Prozent dem Fernsehen, 43 Prozent den Zeitungen, 35 Prozent dem Internet und 20 Prozent den sozialen Medien. Paradoxerweise sind letztere aber am meisten verbreitet. Diese Zahlen fallen in den einzelnen Ländern leicht unterschiedlich aus, aber der Trend steht fest: die Benutzerinnen und Benutzer setzen nicht länger auf Vertrauen und Zuverlässigkeit, sondern auf Bequemlichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Kontakte von «Mensch zu Mensch». Wahr, falsch – wen kümmerts? Problematisch ist diese Entwicklung insofern, als eine gesunde Demokratie Hand in Hand geht mit der Medienvielfalt. Die neuere Geschichte Europas belegt dies.

Wie finden wir also zurück zu einer Küche mit eigenen Ideen, Diskussionen und Argumenten? Vielleicht braucht man dazu wirklich starke Zutaten mit einem ausgeprägten Eigengeschmack. Die Journalistinnen und Journalisten müssen das Heft wieder in die Hand nehmen, ihre Küchenutensilien beherrschen und die Zutaten für ihre Rezepte kennen und einsetzen – auch wenn es manchmal eben sehr viel und ein anderes Mal sehr wenig Salz braucht. Und dann müssen sie das Publikum neugierig auf ihre Menüs machen.

Hiermit wären wir nun bei der Diskussion zu den direkten und indirekten Subventionen für die Medien sowie zum Wirkungskreis und den Aufgaben des Service public. Es ist eine äusserst komplexe und leidenschaftliche Diskussion, die je nach Kontext, je nach Land, je nach Grösse, politischer Geschichte und Kultur-anders ausfällt. Eines aber steht fest: Nur so lässt sich erneut Vertrauen schaffen. Nur so kann man verhindern, dass viele Köche den Brei verderben.

 

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