Gilles Marchand

«Wir bleiben ein sehr wichtiger Akteur im Kultursektor»

— Ein Interview mit Rainer Stadler, veröffentlicht am 11. März 2021 auf www.infosperber.ch

 

Infosperber: Gilles Marchand, die SRG ist mit happigen Problemen konfrontiert. Eines betrifft Sie auch persönlich. Sie waren noch Direktor von RTS, als offenbar Abteilungschefs gegenüber dem Personal übergriffig wurden. Das wird derzeit untersucht. Wackelt Ihr Stuhl?
Gilles Marchand: Wir prüfen diese Angelegenheit sorgfältig und ohne Tabus. Das ist sehr wichtig. Unser Verwaltungsrat hat hier das Heft in der Hand. Ich möchte mich während der laufenden Untersuchung nicht äussern. Erst müssen die Ergebnisse vorliegen.

Zwei ehemalige RTS-Mitarbeiter schrieben kürzlich in der Zeitung «Le Temps», es werde übertrieben und man veranstalte eine Hexenjagd. Entlastet Sie dieser Zwischenruf?
Es ist normal, dass sich verschiedene Stimmen zum Thema äussern. Aber wie gesagt, ich möchte das nicht vor dem Abschluss der Untersuchung kommentieren.

Nun protestieren auch Mitarbeiterinnen von Tamedia gegen Sexismus. Und gegen den «Bild»-Chefredaktor läuft eine interne Untersuchung. Wurde das Thema bisher unterschätzt?
Es ist ein gesellschaftliches Thema, das alle Medienhäuser prüfen müssen, und wir müssen Anpassungen vornehmen. Ich sehe, dass in vielen Ländern darüber diskutiert wird. Die Medien sind ein Spiegel der Gesellschaft. Es ist wichtig, gemeinsam darüber zu reden und Massnahmen zu treffen. Nicht nur in den Medien, sondern auch in anderen Branchen.

RTS, die Westschweizer SRG-Tochter, hat eine genderneutrale Sprache eingeführt. Offenbar gegen den Willen der Belegschaft. Warum?
Diese Diskussion läuft seit Monaten. Natürlich gibt es hier verschiedene Meinungen. Es ist wichtig, dass wir uns mit einer inklusiven, alle einbeziehenden Sprache befassen. Es geht dabei weniger um eine präzise Regelung als darum, dass sich die Belegschaft mit dem Thema auseinandersetzt.

Darüber wird in der Deutschschweiz auch diskutiert.
Eine Sprache ist etwas Lebendiges. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung damit ist wichtig.

Blicken wir auf ein anderes Sorgenthema der SRG, die Kultur. Mehrere Interessenorganisationen und Medienbeobachter werfen der SRG vor, den Kulturauftrag zu vernachlässigen. Warum tun Sie das?
Die Investitionen der SRG in die Kultur gehen insgesamt nicht zurück. Zwei Beispiele: Wir erhöhen derzeit unsere jährlichen Ausgaben für fiktionale Angebote aus der Schweiz um 15 Millionen Franken. Und wir nehmen jährlich 800 Konzerte auf. 500 sind dabei für die zweiten Radiokanäle vorgesehen. Das heisst, wir sind und bleiben ein sehr wichtiger Akteur im Kultursektor. Wir ergreifen aber Massnahmen, um unser Publikum auch auf anderen Wegen und noch besser zu erreichen. Das heisst, wir versuchen vermehrt, unser Publikum auch über digitale Kanäle anzusprechen.

 

Kulturschaffende können aufgrund der Corona-Situation nicht mehr oder nur noch eingeschränkt auftreten. SRF leistet hier einen Beitrag und gibt Schweizer Kulturschaffenden unter dem Motto «Zäme stah» eine Bühne.

 

 

Die SRG muss ja sparen. Insofern ist doch auch die Kultur von einer Budgetreduktion betroffen, oder?
Wir sparen vorwiegend bei der Art und Weise der Produktion sowie bei der Distribution. Aber insgesamt sind die Ausgaben für die Kultur auf Stufe SRG stabil. Die Frage ist vielmehr, wie wir das Angebot gestalten.

Aber warum reduzieren Sie in den Kulturradios den Wortanteil? Musikstücke senden kann doch jeder Privatsender.
Unser Ziel ist es, den Wortanteil insgesamt nicht zu reduzieren. Vielmehr verlagern wir das Angebot. Wir erkannten, dass die zweiten Radiokanäle insbesondere im Tessin und in der Westschweiz das Publikum nicht genügend erreichen. Nun wollen wir diese Sender mit klassischer Musik und auch mit Musik anderer Genres besser positionieren. Aber gleichzeitig bringen wir mehr Kulturbeiträge in den ersten Programmen. In der Westschweiz gibt es jetzt zum Beispiel bei La Première eine Literatursendung und eine tägliche Kultursendung von fünf bis sechs Uhr – was eine sehr gute Sendezeit für Kultur ist. So erreichen wir mehr Personen. Das ist im Interesse der gesamten Branche.

Kulturinteressierte müssen also vermehrt die ersten Radiokanäle einschalten?
Unter anderem, ja. Interessante, neue Angebote gibt es auch auf den dritten Sendern und beim Digital-Angebot. Dank den Umstellungen und Anpassungen haben wir bessere Möglichkeiten, die Kultur zu thematisieren.

Sie verlagern Ressourcen in digitale Angebote, sprechen von einer 50:50-Lösung. Warum stecken Sie die Hälfte der Mittel in spezifische Online-Produktionen?
Das ist ein Missverständnis. Wir werden nicht 50 Prozent der Mittel für Online-Beiträge ausgeben, wir rechnen aber damit, dass die Nutzung unserer Programme bis in fünf Jahren etwa zu 50 Prozent über digitale Kanäle erfolgen wird. Für Digitales geben wir derzeit etwa 15 Prozent der Mittel aus. Das könnte in Zukunft bis auf etwa 20 Prozent ansteigen.

Bis jetzt hat die SRG vor allem digitales Kurzfutter realisiert. Glauben Sie, dass man nur damit die Jungen erreichen kann?
Sicher nicht. Unsere «Dok»- und «Reporter»-Filme zum Beispiel werden online hervorragend beachtet, das Ende 2019 lancierte Webformat «Unzipped» läuft sehr gut und auch die philosophische Diskussionssendung «Bleisch und Bossart». Das sind neue Formate, die sehr gut aufgenommen werden. Digital bieten wir wie im linearen Radio und Fernsehen verschiedene Formate an.

Inwiefern unterscheiden sich lineare von digitalen Beiträgen?
Die Unterschiede liegen in Produktions- und Nutzungsaspekten. Was die Nutzung betrifft, so bieten wir unsere Beiträge zusätzlich à la carte an. Hinsichtlich der Produktion gilt es neue Erzählformen zu finden, die das Publikum in der digitalen Welt besser erreichen. Dabei geht es auch um Partizipation und Interaktivität. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig.

Die SRF-Chefs haben sich letzte Woche etwas konkreter dazu geäussert, was neu werden soll. Digital produzieren heisst demnach, dass man die Leute auf Augenhöhe anspricht, dass man den Geschichten ein persönliches Gesicht gibt, dass die Journalisten lockerer – mit einer persönlichen Färbung – erzählen. Diese Erzählformen hat das Fernsehen und Radio doch schon längst erfunden. Was ist da neu?
Klar ist es seit Jahren möglich, verschiedene Narrative auch im Radio und Fernsehen anzuwenden. Neu ist aber, dass wir das Angebot individueller gestalten, es sogar personalisieren können und die unmittelbare Teilnahme des Publikums sehr viel besser mit integrieren können. So lassen sich irgendwann aufgrund der Interessen eines Nutzers auch Empfehlungen für spezifische Angebote machen.

Themenwechsel. In der Deutschschweiz hat SRF viel Geld in eine neue Studioinfrastruktur investiert. Doch die Technik funktioniert nicht und verschlingt viel Geld. Wo führt das hin?
Das ist so nicht richtig. Ja, es handelt sich um eine grosse Investition. Es stimmt aber nicht, dass die Studios nicht funktionieren. Die Entwicklung ist einfach noch nicht abgeschlossen. Es geht hier um ein wichtiges System, das uns mindestens für die nächsten 15 Jahre begleiten wird. Die Implementierung ist komplex und beansprucht mehr Zeit als ursprünglich geplant. Das kostet Geld, aber das sind interne Kosten, die anderswo eingespart werden müssen. Wir sind zuversichtlich, dass wir das in den kommenden Monaten abgeschlossen haben. Wir investieren hier in unsere Zukunft und werden mit diesem System auch effizienter.

IT-Investitionen sind oft ein erhebliches Systemrisiko. Sie denken also nicht, dass Sie den falschen Weg eingeschlagen haben?
Absolut nicht. Die Kollegen in Kanada, aber auch die BBC setzen auf dieselbe Lösung. Schauen Sie: Die SRG hat in den letzten drei Jahren schon 100 Millionen Franken eingespart, die Kosten für die Verwaltung und die Technik reduziert. Wir sind effizienter geworden, sind auf einem guten Weg.

Mitte-Parteipräsident Gerhard Pfister sprach mit Blick auf die SRG von einem Saftladen. Was sagen Sie dazu?
Wir sind immer offen für Gespräche. Solche Diskussionen sind normal. Wir haben nach der Ablehnung der «No Billag»-Initiative versprochen, effizienter und flexibler zu werden, unser junges Publikum besser zu erreichen und mit den Privaten vermehrt zu kooperieren. Das alles setzen wir jetzt um. Wir machen, was wir sagen.

Im vergangenen Herbst starteten Sie mit der App «Play Suisse» ein gesamtschweizerisches Angebot, das Ihnen sehr am Herzen liegt. Das Echo in der Öffentlichkeit war mässig. Was läuft hier schlecht?
Ich bin mit Ihrer Einschätzung gar nicht einverstanden. Wir hatten eine unglaublich gute Resonanz. Innerhalb von weniger als drei Monaten verzeichneten wir mehr als 200 000 Anmeldungen und momentan kommen fast täglich 1000 neue Registrierungen dazu. Das ist viel mehr, als wir erwartet hatten. Play Suisse wird laufend noch weiterentwickelt.

Anmeldungen sind das eine. Aber wird die App auch genutzt?
Und wie! Wir verzeichnen monatlich mehr als 180’000 aktive Geräte auf der App, mehr als 620’000 sind es seit dem Launch. Das ist eine sehr beachtliche Nutzung – und da geht noch mehr.

Nun wollen die Schweizer Medienhäuser im Internet eine Registrierungspflicht einführen. Inwieweit macht da die SRG mit?
Die SRG ist Teil dieser Login-Allianz, insbesondere zum Austausch von Know-how. Das Login bleibt bei unseren Play-Plattformen in den Regionen allerdings freiwillig. Für für Play Suisse haben wir eine Login-Pflicht, um unsere Inhalte in den verschiedenen nationalen Sprachen anbieten zu können, und wir tauschen auch keine Daten aus.

Wechseln wir zum Geschäftlichen. Weil es auf dem Werbemarkt nicht mehr so gut läuft, haben Sie wieder Unterbrecherwerbung eingeführt. Das scheint mir unehrlich. Zählt auch beim Service public am Schluss vor allem das Geschäft?
Nein, wir versuchen einzig, weitere Einsparungen beim Programm zu verhindern. Wir haben hier einerseits ein strukturelles Problem – die Werbung verlagert sich vom Fernsehen ins Internet, wo uns der Verkauf von Werbeplätzen nicht erlaubt ist. Anderseits haben wir wegen der Pandemie wie alle Medien ein konjunkturelles Problem. Wir verloren 2020 Fernsehwerbung im Wert von etwa 30 Millionen Franken. In dieser Situation sagten wir uns: Wir können uns hier nicht mehr eine volle Zurückhaltung leisten. Andernfalls müssten wir mehr sparen. Wir bieten deshalb auch im Hauptabendprogramm wieder Unterbrecherwerbung an, aber nicht bei schweizerischen Co-Produktionen während der Hauptsendezeit.

Wie viel erwirtschaften Sie mit diesem Zusatzangebot?
Etwas mehr als fünf Millionen Franken pro Jahr.

Was heisst das für den Jahresabschluss? Sie haben in einem Blog-Beitrag angedeutet, dass Sie eine schwarze Null schreiben werden. Könnten Sie etwas mehr dazu sagen?
Fürs herausfordernde «Corona»-Geschäftsjahr 2020 war es unmöglich, ein ausgeglichenes Ergebnis zu erzielen. Im laufenden Jahr könnte es aber aufgrund unserer grossen Sparbemühungen ein ausgeglichenes Ergebnis geben – falls keine neue Katastrophe eintritt.

Das heisst, dass Sie insgesamt im Plan sind mit Ihren Spar- und Umbauplänen?
Absolut. 100 Millionen haben wir seit 2018 bereits eingespart.

Der Nationalrat will die Länge der Online-Texte auf den SRG-Plattformen weiter einschränken. Was sagen Sie dazu?
Wir begrüssen die vom Parlament geplanten Unterstützungen für die Schweizer Medien, das stärkt den Medienplatz Schweiz. Die Einschränkungen für Online-Beiträge der SRG sind in der Konzession ja bereits festgelegt, und das Bundesamt für Kommunikation überprüft das auch regelmässig. Es gab vor Jahren bereits eine breite Debatte über den Spielraum der SRG im Internet. Wir dürfen demnach online nicht werben, uns aber digital weiterentwickeln. Insbesondere, um das junge Publikum besser zu erreichen. Weitere Einschränkungen sind für uns problematisch, denn natürlich möchten wir im Interesse des Publikums das Online-Angebot aufrechterhalten. Aber der politische Prozess ist ja nun noch nicht abgeschlossen, das Thema geht noch in den Ständerat, und deswegen kann ich das nicht weiter kommentieren.

Gerade im Kulturbereich findet man bei SRF teilweise sehr lange Beiträge. Das stösst einigen Kritikern auf.
Wir beschränken unsere Online-Beiträge mit einem Video- oder Audio-Bezug, in Ausnahmefällen dürfen sie auch mal etwas länger sein, beispielsweise in den Bereichen Bildung und Ausbildung.

Aber da gibt es – trotz Ihren Bemühungen um ein gutes Einvernehmen – immer noch Missbehagen auf Seiten der Verleger.
Wir führen Gespräche. Mir ist es sehr wichtig, diese Zusammenarbeit zu verbessern. Ich möchte aber festhalten: Die SRG ist nicht das Problem der Verleger. Alle Schweizer Medien stehen in einem internationalen Wettbewerb. Ich erinnere an die Werbefenster in der Schweiz. Die Schweizer Medienbranche verliert damit jährlich über 300 Millionen Franken, die nicht in Schweizer Medien investiert werden. Ich glaube, dass wir uns mit Kooperationen gegenseitig besser unterstützen könnten.

Aber Sie geraten in neue Konfliktzonen, weil die Verleger in Audio- und Videoproduktionen investieren. Entsprechend nehmen die Privaten die schon finanzierten SRG-Angebote als wirtschaftliche Konkurrenz wahr.
Gewiss müssen wir die Probleme der privaten Medien berücksichtigen. Wir müssen aber auch an die Interessen der Bevölkerung denken. Unsere digitalen Angebote sind komplementär zu unseren klassischen Radio- und Fernsehsendern. Wenn wir die Jungen besser erreichen wollen – dazu verpflichtet uns die Konzession -, müssen wir in digitale Beiträge investieren. Das tun auch die öffentlichen Sender in anderen Ländern.

Zum Schluss eine generellere Frage: Sie sind seit viereinhalb Jahren Generaldirektor. Hat sich mit dem Wechsel nach Bern Ihre Perspektive auf die Schweiz verändert?
Ich verstehe wohl besser als zuvor, was Vielfalt in der Schweiz bedeutet.

Seit dem Wechsel von der Region in die nationale Politik sind Sie einem raueren Wind ausgesetzt, oder?
Es ist eine völlig andere Arbeitssituation. In den Regionen ist man als Direktor vor allem auf das Programmangebot konzentriert. In der Generaldirektion in Bern geht es mehr um Medienpolitik und Management. Das ist nicht immer einfach. Aber generell: Ich arbeite jetzt seit genau zwanzig Jahren für die SRG. Als ich 2001 begann, hielt das Internet Einzug beim Fernsehen, dann kamen die Konvergenz von Radio und Fernsehen, die sozialen Netzwerke, das neue Radio- und Fernsehgesetz, dann die No-Billag-Initiative. Es folgten die digitale Entwicklung der SRG, darauf die grossen Sparmassnahmen und jetzt die Einführung von Play Suisse. Diese zwanzig Jahre waren für mich eine höchst intensive Zeit. Zwanzig Jahre… Ich habe den Eindruck, es sei erst gestern gewesen.

 

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