Gilles Marchand

Disruptionen in der Medienbranche

 

 

Mit ihrer zentralen Rolle in der digitalen Gesellschaft, die sie einerseits aktiv mitgestalten und der sie andererseits ausgesetzt sind, sind die Medien aktuell tiefgreifenden Umwälzungen unterworfen – vielleicht verändern sie sich so stark wie noch nie.

Diese Umwälzungen haben einen direkten Einfluss auf das Nutzungsverhalten, die Erwartungen des Publikums, die Vermittlung der Inhalte und somit auf die Nutzungszahlen; auf den Zugang, die Distribution, die Reichweite und somit auf die Verankerung; auf die Produktionsarten, die Tools, die Arbeitsabläufe und somit auf das Know-how; auf die neue, oft eigentlich branchenfremde Konkurrenz (Telekomanbieter, Internetgiganten), und somit auf die Kräfteverteilung; auf die Finanzierung, insbesondere mit einer Verlagerung und dem Rückgang der Werbeinvestitionen – und somit auf die Geschäftsmodelle der öffentlichen wie der privaten Medienhäuser.

Künstliche und mediale Intelligenz
Letztlich stellt all das die Kapazität für die Produktion von originären Medieninhalten und ihre Legitimität in Frage – im Informationsbereich aber auch im Kulturbereich in einem weiteren Sinne.  Ist es noch angezeigt, für Informationen zu bezahlen, eine Zeitung oder auch ein Gesamtangebot von Medieninhalten zu kaufen? Ist es legitim, in der Schweiz eine Empfangsgebühr zu bezahlen für eine Medienproduktion in vier Sprachen, von der jede und jeder meist jedoch nur eine Sprachversion nutzt?

Die Umwälzungen sind beispiellos und treffen alle Medien – Presse wie Radio, audiovisuelle wie digitale, öffentliche wie private – und das mit voller Wucht und in einem rasanten Tempo. In diesem Kontext wirken sich die technologischen Entwicklungen, die Digitalisierung und vor allem die Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz sehr tiefgreifend und konkret auf uns aus.

Neue Tools, neue Inhalte … und der Roboter Lena
Durch die rasche Entstehung neuer Tools bieten sich neue Perspektiven. Zum Beispiel kann eine ganze Reihe publizistischer Grundlagenarbeiten an Maschinen «outgesourct» werden; dies erlaubt eine mehrwertige Konzentration auf die menschlichen Kompetenzen. So kann beispielsweise die redaktionelle Arbeit im Bereich der Sport- oder Wahlergebnisse automatischen Produktionssystemen anvertraut werden. Die Journalisten können sich auf Kommentare, Analysen und die Moderation von Diskussionen konzentrieren. Ein Textroboter Lena ist bereits für die SRG und SDA im Einsatz. Er produziert Vorschläge für Kurztexte in den vier Landessprachen und wurde bei den letzten eidgenössischen Wahlen erfolgreich getestet.

Immersive Erfahrungen, Datenjournalismus und verschiedene Abhängigkeiten
Ein weiteres Beispiel sind die immer ausgeklügelteren automatischen Aufzeichnungssysteme, die es dem Nutzer ermöglichen, die Kameras sowie die Kameraperspektive bei Aufzeichnungen von Sportaustragungen oder Veranstaltungen zu wählen. Dadurch werden Storytelling und Regie komplett in Frage gestellt. Die Kameras werden immer kleiner, fliegen ganz von selbst und eröffnen völlig neue Perspektiven.  Das Ganze wird, mit Computergrafiken und Augmented Reality angereichert, qualitativ immer besser. Mit dem Ergebnis, dass man sich nicht mehr nur eine Aufnahme ansehen, sondern in ein lebensechtes Erlebnis eintauchen kann.

Da sind die unendlichen Möglichkeiten des Datenjournalismus, der auf der Nutzung bearbeiteter, erhobener und aggregierter Daten basiert, um daraus Schlüsse zu ziehen, Hypothesen aufzustellen und in jedem Fall eine gute Geschichte zu erzählen. In diesem Bereich ist die Rechenleistung der Maschinen effizienter als die Recherchekompetenz der Journalisten. Dann gibt es auch noch die Arbeit der Autoren und Autorinnen im Bereich der Fiktion. Verschiedenste Beobachtungs- und Vorhersagesysteme werden eingesetzt, um Serien zu inszenieren und einen Sogfaktor zwischen zwei Episoden zu erreichen.

Im technischen Bereich arbeitet man schon lange mit virtuellen Szenerien. Heute gibt es nicht nur virtuelle Kulissen im Studio, sondern ganze Produktionen in natürlicher Umgebung, die virtuell nachempfunden werden. Und nicht zu vergessen die sogenannten «Deepfakes», sprich Reenactment-Technologien, insbesondere Methoden, die Lippenbewegungen nachahmen und so zum Beispiel Politikern oder Journalisten Worte in den Mund legen, die sie nie gesagt haben.

Neue Grenzen und die Vertrauensfrage
Was haben all diese Themen gemeinsam? Sie bringen rasch neue Berufsbilder hervor und stellen bisherige Macharten in Frage. Das ist manchmal schmerzhaft. Dann die wachsende Verschmelzung von Realität und Rekonstruktion. Das stellt die oft sehr persönliche, subtile Beziehung zu den Medien auf den Prüfstand, die auf einer gemeinsamen Lebenswelt und auf Vertrauen basiert. Diese Beziehung – und mit ihr der gesamte Mediensektor – wird geschwächt. Eines ist sicher: In diesem anspruchsvollen Umfeld verschwimmen die starren Grenzen zwischen verschiedenen Themenbereichen und Vektoren zusehends. Audio, Video und Text vermischen sich zu einem mehr oder weniger glücklichen Ganzen.

In dieser rasanten Entwicklung bleibt eines entscheidend: die Stärke der Marke – ob es sich nun um eine Zeitung, eine Sendung, einen Sender oder auch um einen Journalisten handelt. Was zählt, ist das Vertrauen. Und dieses Vertrauen ist nicht in Stein gemeisselt.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Produktionskapazität von originären Inhalten. Die digitale Gesellschaft ist eine Gesellschaft der unendlichen Wiederverwendung von Inhalten. Es braucht also irgendwo eine Erstproduktion, eine originäre Kreation. Und dies ist ein Teil des Kernauftrags des Service public.

Auffindbarkeit geht vor!
Alles entscheidend ist die Auffindbarkeit, die «Discoverability». Es ist gut und recht, gute Inhalte zu produzieren. Das allein bringt aber nichts, wenn die Inhalte vom Publikum nicht gefunden werden. Das wird jedoch aufgrund des riesigen Angebotes immer schwieriger. Die Bereitstellung linearer Inhalte, Fernseh- und Radioprogramme sowie Zeitungs- und Magazinseiten ist daher überholt. Die neuen Zugangstechnologien setzen daher zwingend auf zwei Dienstleistungen.

Zuerst einmal auf die Personalisierung. Dabei geht es um den On-Demand-Zugang zu Inhalten, der orts- und zeitunabhängig an die Bedürfnisse jeder individuellen Nutzung angepasst werden kann. TSR hat bereits um die Jahrtausendwende damit begonnen, Fernsehprogramme im Internet anzubieten.  Heute ist es undenkbar, dass Produktionen aller Art nicht auch on demand zur Verfügung stehen, während oder sogar vor der TV-Ausstrahlung. Und das Publikum macht mit, die Online-Nutzung steigt Jahr für Jahr steil im zweistelligen Prozentbereich.

Von «one to all» zu «one to one»
Gleichzeitig zerstört die zeitversetzte On-Demand-Abfrage, die für unsere Nutzerinnen und Nutzer unentbehrlich ist, das Geschäftsmodell der Medien. Sie schwächt die Werbeumsätze, die im TV-Bereich nach wie vor auf Reichweite und Marktanteil abstellen. Die Werbung wandert auf die digitalen Plattformen ab. Die Logik hat sich von «one to all» zu «one to one» verschoben. Das Problem dieser Verschiebung ist, dass dadurch die Wertigkeit der Werbung abnimmt. In den Budgets der Werbetreibenden können sich so 100 Franken für TV-Werbung in 50 Franken oder weniger für Online-Werbung verwandeln. Ausserdem ist es sehr schwierig, die neuen Nutzungszahlen in diesem stark fragmentierten Markt zu konsolidieren.

Im Broadcast-Bereich misst sich die Leistung in Kontakten und Dauer. Im Online-Bereich misst man in erster Linie die Kontakte (wenn überhaupt), ohne genau zu wissen, ob es sich dabei um einen Menschen oder eine Maschine handelt. Man kann diese beiden Welten also nicht verbinden. Das schwächt das Geschäftsmodell der Werbung folglich enorm. Da der Schweizer Service public darüber hinaus seine hervorragenden digitalen Leistungen nicht vermarkten darf, wird sein aktuelles Finanzierungsmodell (Mischfinanzierung aus Empfangsgebühren und Werbeeinnahmen) durch die personalisierte Mediennutzung gefährdet.

Wer empfiehlt … befiehlt!
Die zweite und viel wirksamere Dienstleistung ist die Empfehlung. Das Medium macht einen direkten, individualisierten Inhaltsvorschlag basierend auf der Beobachtung des bisherigen Nutzungsverhaltens oder der genauen Analyse der vom Nutzer hinterlegten persönlichen Daten.  Dank dieser Daten lassen sich Profile zu Interessen und Vorlieben erstellen. Zudem verknüpft man Nutzungsverhalten und Profile oft miteinander. Diese Metadaten werden dann konsolidiert und von Systemen mit unglaublicher Rechenleistung bearbeitet. Anhand der Resultate lässt sich die Relevanz der Kontakte zwischen Inhalten und Nutzern erheblich steigern.

Bedenkt man, dass Youtube allein zwei Milliarden Nutzer hat und pro Minute 500 Stunden neues Videomaterial hochgeladen wird, warf Lê Nguyên Hoang, Forscher an der ETHL, kürzlich in einem Interview mit Le Temps ein interessantes Licht auf dieses Thema: «Täglich werden auf dieser Plattform über eine Milliarde Stunden Videos angeschaut, wobei 70 Prozent davon auf Empfehlung angesehen werden. Dank der gigantischen Datenbank kann Youtubes künstliche Intelligenz alles ausdrücken und unsere Überzeugungen tiefgreifend beeinflussen. Sie kann fundierte Informationen so darstellen, als wären sie vollkommen falsch. Noch schlimmer, sie kann Verschwörungstheorien Vorschub leisten und sie viral gehen lassen und allenfalls Fenster zur Radikalisierung bieten. Diese möglichen Begleiterscheinungen sind höchst besorgniserregend.»

Nein zum digitalen Gefängnis in der «bubble»
Es ist klar, dass diese Algorithmen bei unsachgemässer Anwendung ein grosses Risiko für die Entwicklung von digitalen Blasen bergen. Die Nutzer sind in ihrem eigenen kleinen Universum aus persönlichen Vorlieben, Interessen, Überzeugungen und Praktiken eingeschlossen – und kommen dort nicht mehr heraus. Weil abgesehen der Medien alle persönlichen Gepflogenheiten und Einstellungen getrackt und konsolidiert werden. Alles Zufällige, alles Unerwartete und somit auch die Neugier darauf verschwinden. Der Blick auf die Welt wird enger und kleiner und mit ihr auch die Qualität der gesellschaftlichen Debatte, die Fähigkeit des Miteinanders und der Respekt vor der Andersartigkeit. Hier kommt dem Service public eine besondere Verantwortung zu. Wir müssen diese technologische Entwicklung so gut wie möglich in den Dienst unseres öffentlichen Auftrags stellen. Und dieser Auftrag hat in keiner Weise etwas mit Abkapselung zu tun. Im Gegenteil, dieser Auftrag steht für Eigenproduktion, Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Vor diesem Hintergrund wird die SRG diesen Herbst mit der Lancierung einer neuen Plattform etwas Neues, sehr Innovatives wagen. Dies, um einen Beitrag dazu zu leisten, die verschieden Aspekte der Schweiz, deren Reichtum in ihrer Vielfalt liegt, zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die SRG lädt zu einer neuen Reise durch die Schweiz ein, die dank der digitalen Möglichkeiten machbar wird. Der Pass für diese Reise ist einfach, sicher und bereits Teil der bezahlten Gebühr. Man kann sich auf der SRG-Plattform ganz einfach anmelden und seine Sprache wählen. Danach hat man Zugriff auf Spielfilme, Serien, Reportagen und Dokumentarfilme neueren und älteren Datums aus der ganzen Schweiz – von Lugano und Luzern über St. Gallen, Genf, Lausanne, Zürich und Basel bis nach Chur und Bern.

Die Inhalte werden nicht mehr nach Sprache oder Region vorgeschlagen, sondern nach Themen und Genres. Untertitel und Synchronisation in den Landessprachen eröffnen spielend leichten Zugang zu allen Inhalten. Dank dem personalisierten Zugang bleiben dabei nicht nur alle persönlichen Einstellungen der Nutzerinnen und Nutzer, zum Beispiel zur Sprache oder zu den Untertiteln, erhalten. Sie können auch alle Inhalte geräteübergreifend abrufen. Die auf dem Arbeitsweg im Zug begonnene Folge von «Wilder» oder «Helvetica» kann am Abend auf einem grösseren Bildschirm nahtlos weitergeschaut werden. Das ganze Angebot ist für den Nutzer ein Mehrwert. Seine persönlichen Daten sind sicher und werden nicht kommerzialisiert oder weitergegeben.

Es lebe der Zufall und die Neugier
Zufälligkeit und Neugier bleiben erhalten, weil Inhalte aus allen Sprachregionen angezeigt werden, die bisher in den jeweils anderen Regionen noch nicht ausgestrahlt wurden. Es ist eine neue Schweizer Erfahrung, eine neue Dimension, die dank des Digitalen im Dienst eines kulturellen Anspruchs möglich wird – des Anspruchs auf Entdeckungsfreude, auf «Zusammenleben», auf ein Miteinander.

Es ist eine Schweizer Antwort für die Schweizerinnen und Schweizer in unserer hochvernetzten Welt; einer Welt, die gleichzeitig von der Lebenswelt der Menschen abgekoppelt ist. Der Multikulturalismus ist ein Mythos, auf den man sich in der Schweiz oft beruft. Wir werden ihn tatsächlich leben.

 

Gilles Marchand
Generaldirektor SRG SSR

 

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